Pestalozzi und Preußen. Ein Versuch zur historischen Bestimmung des bildungspolitischen Diskurses.

Renate Hinz

In: Pädagogische Rundschau 1/1994, S. 81-105.

Renate Hinz stellt in ihrer Studie den Einfluß Pestalozzis auf die preußische Reform- und Modernisierungspolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht isoliert vor, sondern beginnt mit einer theoretischen Vergewisserung zur Bedeutung der Historischen Pädagogik für die Erziehungswissenschaft. Nach dem Ende der geisteswissenschaftlichen Pädagogik ist eine neue "Re-Historisierung" der Pädagogik nicht zu übersehen, jetzt allerdings mit einer veränderten Fragestellung und veränderten Forschungsmethoden. Eine mehrperspektivische Strukturgeschichte, die verstärkt Biographienforschung und Alltagsgeschichte in die historisch-vergleichende Analyse einbezieht, löst die mehr narrative und auf "Klassiker" ausgerichtete Geschichte des pädagogischen Denkens ab.

Pestalozzi konnte in seiner Wirkung auf Preußen so einflußreich werden, weil seine Vorstellungen vom Menschen und seine Vorstellungen vom Zusammenhang von Politik und Erziehung genau zu der von der Bürokratie getragenen Modernisierungspolitik nach der militärischen Niederlage von Jena und Auerstedt (1806) paßten. Bildung sollte für den Wiederaufbau des preußischen Staates genutzt werden bei gleichzeitiger Fürsorgepflicht des Staates für die Bildung und Erziehung aller. Erziehung und Bildung wird gleichsam zum Rettungsanker in einer Umbruchssituation und die Bildungsreform rückt deshalb in das Zentrum des preußischen Reformkonzepts. Die "Versittlichung" des Menschen, also seine Erziehung zu einem selbstverantwortlich handelnden Mitglied der Gesellschaft, wird in Preußen zum herausragenden Reformziel und in Pestalozzis Denken ist Sittlichkeit als die entscheidende Kraft im Menschen angelegt, die in der politischen und industriellen Umbruchssituation jener Tage ("Zeitverderben") Politik und Pädagogik miteinander verbinden kann (vgl. u.a. die "Nachforschungen"). Die in Preußen bei der praktischen Umsetzung sowohl der Bildungsreform als auch der Rezeption Pestalozzis wirkenden Kräfte waren durchaus ambivalent in ihrer Spannung zwischen Emanzipation der Bürger oder gar des gesamten Volkes auf der einen und dem Absichern einer obrigkeitlichen und ständisch strukturierten Ordnung auf der anderen Seite. Ambivalent auch zwischen individuellen und nationalen Ansprüchen und zwischen einer mechanischen Übernahme der Pestalozzischen Methode und einer mehr verarbeitenden Übernahme der von Pestalozzi ausgehenden Anstöße. In Preußen kann die Preisgabe der Pestalozzischen Methode nicht allein als Scheitern aus deren inneren Schwächen heraus verstanden werden, sondern ist zumindest auch eine Folge der Aufgabe einer auf selbständiges Denken und Handeln gerichteten Elementarbildung zugunsten einer volkstümlichen Ausbildung unter staatlicher Kontrolle.

Für Hinz haben Pestalozzis Impulse dann in der Restaurationsphase innerhalb der Lehrerschaft unterschwellig weitergewirkt und in sehr produktiver Weise die überfällige Professionalisierung des Lehrerberufs mitbewirkt. Das Beispiel Preußen in den Jahren 1806-1820 kann zeigen, daß in jeder politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umbruchssituation der Ruf nach einer politischen Bildungsreform laut wird und pädagogische Reformmodelle zu ihrer Bewältigung gesucht werden. Hinz verbindet ihre Darstellung mit der Hoffnung, daß auch in der heutigen Umbruchssituation (Informationsgesellschaft, Globalisierung, Ökokrise usw.) der Pädagogik ein Beitrag zur Selbstbestimmung des Individuums und zur Beeinflussung der Bildungspolitik möglich werden wird.