Zum 250. Geburtstag Pestalozzis - rationale Argumentation oder Kult des Pädagogischen.

Fritz Osterwalder

In: Zeitschrift für Pädagogik 2/1996, S. 149-163.

Osterwalder geht zuerst der Frage nach, ob die Wirkungsgeschichte Pestalozzis auch ein Indiz für die Richtigkeit seiner Theorien oder seines pädagogischen Denkens ist und unterstellt diese Sicht weiten Bereichen der Pestalozzi-Forschung und der pädagogischen Geschichtsschreibung bis hin zu den neueren biographischen Texten von Liedtke und Stadler. Pestalozzis reale Wirkung aber ist in Wahrheit gering geblieben, seine bleibenden literarisch-fiktionalen Texte können nach Osterwalder auf "Lienhard und Gertrud", das "Schweizer-Blatt" und die "Fabeln" reduziert werden. Neben den Schriften zur Methode sind von Pestalozzi vor allem autobiographische Texte abgefaßt worden, wohlgemerkt fiktive autobiographische Texte. Osterwalder spricht geradezu von Pestalozzi I, dem realen nichtfiktionalen Pestalozzi und Pestalozzi II, dem von ihm selbst immer wieder aufgebauten fiktionalen Subjekt Pestalozzi.

Wissenschaftstheoretisch muß sich die moderne Pädagogik als eine öffentlich verfahrende Wissenschaft verstehen, die objektivierende Distanz zu ihrem Gegenstand erzeugt und sich argumentativ und rational begründet. In der Tradition Pestalozzis verformt sich Pädagogik dagegen zu einer Wissenschaft mit appellativem Charakter, die auf gute Absicht, wiederholten Mißerfolg und Beharrlichkeit statt auf Erfahrung, Irrtum und Korrektur setzt.

Mit seiner Fragestellung, Pädagogik als moderne Wissenschaft oder Pädagogik in der Tradition Pestalozzis, gibt Osterwalder - ohne es explizit zu benennen - einen Impuls zum erneuten Aufgreifen alter Fragen der Pädagogik: Autonomie der Pädagogik, Theorie-Praxis-Verhältnis in der Pädagogik bzw. beim erzieherischen Handeln und der Frage, ob Pädagogik oder Erziehungswissenschaft die angemessene Bezeichung dieser Wissenschaft ist.