War Pestalozzi ein Ausbeuter?

Pestalozzi, die Indienne-Druckerei Laué und die Kinderarbeit

Kapitel 10 - Menschenliebe als Motiv ...

... für Pestalozzis Laué-Engagement fällt für Peter Stadler ausser Betracht. Doch im Hinblick auf all die oben vorgetragenen Argumente erscheint mir seine Einschätzung, Pestalozzi habe es nicht anders gehalten als andere Unternehmer und habe sich Menschenliebe noch weniger leisten können als seine Konkurrenten, als unangemessen. Ein gewisses Licht auf diese angeblich reine, keine Rücksicht auf Menschenliebe nehmende Unternehmertätigkeit wirft der Brief Pestalozzi an Laué vom 3. Juni 1785. Ihm ist zu entnehmen, dass zwei Mädchen Stoffresten entwendet und verkauft hatten. Heute würde man dies als Bagatelle betrachten und mit einem Schulterzucken übersehen. Aber damals galt erstens jeder Diebstahl als grundsätzlich verwerflich, und zweitens war Material immer viel wertvoller als Arbeitseinsatz, ganz gleich, ob es sich um Nahrungsmittel, Holz, Tuch oder andere Ware handelte. So ist verständlich, dass Laué die "zwei Diebinnen" zur Rechenschaft ziehen wollte. Er forderte sie offenbar auf, Pestalozzi gegenüber genau anzugeben, wie viel Stoff sie entwendet und an wen sie ihn verkauft hatten, dies selbstverständlich, um diese Beträge im Nachhinein einzufordern. Die beiden Mädchen erschienen aber nicht bei Pestalozzi, weshalb dieser den Vorgesetzten Wolleb in ihr Haus sandte, zu befehlen, sie sollten zu ihm - Wolleb - kommen . Doch statt zu kommen, entflohen sie. Interessant ist nun, wie Pestalozzi darauf reagiert. Als erstes stellt er nüchtern fest: "also werden für einmahl unsere Recherches aufhören müssen". Er nimmt es gelassen in der Überzeugung "Ich traue aber nicht, dass sie lang fort syen" und rät Laué "am Plaz meiner Herren (d.h. an Ihrer Stelle) würde ich sie im Avisblatt als entloffene Diebinnen publiciren lassen". Und um die Sache möglichst zu verharmlosen schreibt er weiter: "Mir sind selbige nur jedes vierzig Bazen und zehn Bazen für ein verderbtes Nastuch schuldig. Ich will trachten zu sehen, wie ich den Schaden wieder einkomme" (PSB 3, 216). Also nichts von einer Anzeige oder von polizeilichen Suchaktionen! Aber die Stelle beweist nicht nur, dass Pestalozzi den Kindern für ein verdorbenes Taschentuch genau das belastete, was er Laué geben musste, sondern zeigt auch, dass er dem Kind die feststehenden 10 Batzen bislang nicht am Lohn abgezogen, sondern auf die eigene Kappe genommen hatte. Darüber hinaus ist zu fragen, wie es möglich ist, dass die beiden Kinder (die übrigens nicht Geschwister sein können, denn Pestalozzi sendet Wolleb zu "ihren Häusern") ihm Geld schulden konnten. Möglich, dass er eine Verpflegung in Rechnung gestellt hat. Doch die wäre in jedem Fall kleiner als der Lohn, und Pestalozzi hätte dies gewiss jeweils am Zahltag verrechnet. So muss man wohl annehmen, er habe den Kindern bzw. deren Familie irgendeinmal aus der Verlegenheit geholfen, was bekanntlich seinem Charakter durchaus entsprach. Und so wird es wohl eben doch Menschenliebe gewesen sein, die Pestalozzi dazu bestimmte, sich neben seinem übervollen Arbeitspensum (er schrieb u. a. an den Bänden 3 und 4 von "Lienhard und Gertrud", studierte und exzerpierte eine Reihe philosophischer Werke, stand im Briefwechsel mit gewichtigen Exponenten des kaiserlichen Hofes in Wien, verfasste zu verschiedenen Themen Gedenkschriften und hatte sich um seinen Sohn Jacques zu kümmern, der bei Battier in Basel in der Lehre war) dafür einzusetzen, dass eine Handvoll Kinder in seinen leer stehenden Räumlichkeiten eine Verdienstmöglichkeit erhielten, die ihm - abgesehen von seinem Fixum - keinen Gewinn einbrachte.

Zu diskutieren ist auch Stadlers Behauptung, Pestalozzi habe offenbar "auch keinen Versuch mehr gemacht, an Kindern seine Erziehungsmethoden zu erproben, sondern sich auf das Geschäftliche beschränkt". Man kann das vermuten, aber es gibt dafür keinen positiven Beleg. Man kann aber auch das Gegenteil vermuten: dass Pestalozzi nach dem Zusammenbruch der sog. Armenanstalt seine grundlegende Idee keineswegs aufgab, sondern nach der Übernahme des Dolder'schen Betriebs in Wildegg durch Laué eine neue Möglichkeit sah, Kinder von der Strasse zu holen, sie arbeiten zu lehren und ihnen während des Arbeitens elementare Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Es ist dann allerdings hoch wahrscheinlich, dass er sich von seiner Idee der Verbindung von Routinearbeit mit schulischem Lernen lösen musste, da - anders als etwa beim Spinnen - das Ausmalen von vorgedruckten Mustern auf Baumwolltüchern die volle Konzentration der Kinder erforderte. Das heisst aber noch lange nicht, dass Pestalozzi damit jegliche erzieherische Intention aufgegeben hätte. Es muss nochmals mit Nachdruck auf seine Überzeugung hingewiesen werden, dass "das Leben bildet". Damals vertrat er mit Entschiedenheit die Ansicht, die sittliche Bildung des jungen Menschen beruhe auf der "Bildung zur Industrie" Anmerkung, d.h. auf dem Bewältigen der praktischen Alltagsprobleme durch zuverlässige, ausdauernde Arbeit, und erst auf der Basis der dadurch gebildeten "Überwindungskräfte" könne es gelingen, ein Leben nach Recht und Sitte zu führen. Unter diesem Blickwinkel gibt es keinerlei Grund, der Arbeitsgemeinschaft auf dem Neuhof eine beabsichtigte pädagogische Wirkung abzusprechen.

Meines Erachtens dürfte aber bei der Beurteilung von Pestalozzis Laué-Engagement sein emotionales, ja beinahe mystisches Verhältnis zum Kind schlechthin nicht ausser Acht gelassen werden. Bekanntlich wurde Pestalozzi in den hier zur Diskussion stehenden Jahren geschüttelt durch das, was man gängig als seine grosse Lebenskrise bezeichnet. Es gibt über diese Zeit eine Reihe erschütternder Selbstzeugnisse: dass er sich verkannt fühlte, dass ihn eine "menschenverachtende Stimmung" (PSW 23, 218) durchdrang und dass er "viele Jahre in der Verzweiflung und im Rasen (s)eines unbeschreiblichen Ellends" gelebt habe und er am liebsten der ganzen Welt "nur ins Gesicht (hätte) speien mögen" (PSB 4, 20). Was ihn dann vor dem "äussersten Verderben" gerettet habe, beschreibt er 1812 in der Rückschau folgendermassen: "Wenn ich mitten im Gefühl der höchsten Zerstörung, mitten in der tiefsten Wut über meine Umgebung ein Kind auf der Straße fand und auf meinen Schoß setzte, und das Auge seines innern Himmels meinen starren Blick auch nur leicht berührte, so lächelte mein Auge, wie das Auge des Kindes, und ich vergaß Himmel und Erde, ich möchte sagen, ich vergaß Gottes und der Menschen Gerechtigkeit und lebte in der Wonne der Menschennatur und ihrer heiligen Unschuld, indem ich mich im Kind, das auf meinem Schoß war, eigentlich verlor oder vielmehr wiederfand. Ich freute mich wieder mit inniger Rührung über mein Dasein mit der heiligen Freude, die das Dasein des Kindes, das auf meinem Schoß saß, in meine verödete Seele hineinlegte. Also rettete mich ein innerer liebender Sinn, der stärker war, als alles, was äußerlich rund um mich her mich empörte, von meinem äußersten Verderben" (PSW 23, 218 f.). Ich halte es für unstatthaft, solche Selbstzeugnisse beiseite zu schieben, als handle es sich um raffinierte Versuche, irgendein Image der Kinderfreundlichkeit zu hätscheln.

So möchte ich denn die im Titel gestellte Frage, ob Pestalozzi ein Ausbeuter war, mit einem klaren Nein beantworten. Auch Peter Stadler behauptet das in dieser krassen Weise nicht, doch seine Art der Wortwahl und der Argumentation macht dem Leser den Schritt zum aburteilenden "Auch du, Brutus!" allzu leicht. Ich hoffe, mit dieser Arbeit der heute in Mode gekommenen abwertenden und auch verurteilenden Tendenz gegenüber einem der bedeutendsten Menschen unserer Kultur ein wenig entgegentreten zu können. Ich tue dies im vollen Respekt gegenüber der Arbeit von Peter Stadler, den ich auch in meinen Rezensionen seiner beiden Bücher zum Ausdruck gebracht habe. Dabei möchte ich mich gegen die Unterstellung verwahren, ich sei daran interessiert, Pestalozzi zu verherrlichen, zum Mythos zu erheben, als Denkmal auf einen Sockel zu stellen und bei all dem seine Schwächen, Fehler und Widersprüche zu überkleistern. Ich kenne nur ein Interesse und bin überzeugt, mich darin mit Peter Stadler einig zu wissen: die Wahrheit.