War Pestalozzi ein Ausbeuter?

Pestalozzi, die Indienne-Druckerei Laué und die Kinderarbeit

Kapitel 2 - Ein Blick auf die ökonomische Situation ...

... des 18. Jahrhunderts ist hilfreich, um den Gehalt des Briefes zu verstehen. Bekanntlich hat sich damals in ganz Europa die Baumwollindustrie sprunghaft entwickelt. Ein besonders lukrativer Zweig war das farbige Bedrucken von Baumwollstoffen. Den Beginn dieser Entwicklung markierte die 1580 erstmals (über den Hafen von Marseille) erfolgte Einfuhr von bedruckten Tüchern aus Indien, deren Farben das Waschen überdauerten. Ab 1640 wurden zuerst in Frankreich, dann auch im übrigen Europa Tücher - vorab Baumwolltücher - in ähnlicher Weise wie die aus Indien importierten bedruckt, weshalb man sie als Indienne, und die Betriebe, die sie herstellten, als Indienne-Druckereien (auch: Zeugdruckereien oder Kattundruckereien) bezeichnete. Dieser neue Erwerbszweig wurde nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 von immigrierenden Hugenotten in das Gebiet der heutigen Schweiz eingeführt und konnte sich dank Fehlens von Zunft-Schranken einigermassen gut entwickeln. Einen bedeutenden Aufschwung erfuhr die Indienne-Industrie in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts, dies als Folge der 1759 erfolgten Aufhebung des 1686 durch Ludwig XIV. unter Androhung der Todesstrafe verhängten Verbots der Einfuhr, der Herstellung und des Gebrauchs von bedruckter Baumwolle . Auch andere europäische Staaten (hauptsächlich England und Preussen) hatten zum Schutz der eigenen Woll-, Leinen- und Seidenindustrie die Baumwolldruckerei, teilweise sogar die ganze Baumwollindustrie verboten. Dies ermunterte wiederum andere Regierungen dazu, den neuen Erwerbszweig aktiv zu fördern. Bern tat sich in dieser Hinsicht besonders hervor; das "Zentrum der Indienne-Verarbeitung war die Gegend von Lenzburg, Aarau und Zofingen" (Fetscherin, 18), ein Gebiet, das damals zu Bern gehörte. In besonderer Weise profitierte von der Aufhebung der Prohibition das Neuenburgische Haus De Luze, das vom Hugenotten Jaques De Luze (ca. 1660 - nach 1727) gegründet und von seinem Sohn und seinen Enkeln auf eine bedeutende Höhe gebracht wurde. Für den Verkauf ihrer Ware auf den Messen verpflichtete dieses Unternehmen junge, sprachbegabte Kaufleute, sog. Commis, die sich in der Regel für ein bestimmtes Land oder Sprachgebiet spezialisierten. Dies ist in unserem Zusammenhang insofern von Bedeutung, als der Empfänger des hier zur Rede stehenden Briefes, Christian Friedrich Laue (ab 1774: Laué), seine eigentliche Karriere auf dem Gebiet des Indienne-Drucks als Commis im Hause De Luze in Neuenburg begann und sich später zeitweise geschäftlich mit dieser Firma verband . Der im bernischen Aargau in Blüte stehende Zeugdruck erhielt dann allerdings einen herben Rückschlag durh die 1785 erneut verhängte französische Prohibition. Es war kein Geringerer als Pestalozzi selber, der von den Aargauer Indienne-Fabrikanten dazu bewogen wurde, hinsichtlich der erneuten Exportprobleme bei der Berner Regierung vorstellig zu werden (PSW 9, S. 279 ff.).