War Pestalozzi ein Ausbeuter?

Pestalozzi, die Indienne-Druckerei Laué und die Kinderarbeit

Kapitel 8 - Mögliche Gründe für Pestalozzis Engagement ...

... könnten die folgenden gewesen sein:

  1. Den Briefen und Notizen, an Laué gerichtet, ist übers Ganze gesehen zu entnehmen, dass es vor allem Pestalozzi (und nicht Laué) war, der am Funktionieren von Laués Malerstube auf dem Neuhof interessiert war - dies aber nicht wegen einem eigenen finanziellen Vorteil, sondern im Sinne eines sozialen Engagements. Das, was man heute Pestalozzi zum Vorwurf zu machen geneigt ist, nämlich Kinder arbeiten zu lassen, war in seinem Sinne für sie und deren Familien eine Wohltat. Er hatte - wie bereits erwähnt - schon in der sog. Armenanstalt Arbeitsmöglichkeiten für Kinder geschaffen und war nun, nachdem es sich als unmöglich erwiesen hatte, diese im Internat zu betreuen, weiterhin bestrebt, Arbeitsplätze für Kinder zu schaffen. Das war ihm mit Sicherheit nur darum möglich, weil es ihm gelang, Laué, der sich selbst als sozial engagierten und aufgeklärten Unternehmer verstand, für seine Idee zu gewinnen, die auf dem Neuhof leer stehenden Räume dem Unternehmen Laué zur Verfügung zu stellen, damit dort Kinder eine ihnen zumutbare Arbeit erlernen und finden könnten. Und das Bemalen von Tüchern musste Pestalozzi in jedem Fall für die Kinder als zumutbarer erscheinen als Spinnen und Weben. Unter diesem Aspekt hätte Pestalozzi niemals darein einwilligen können, Laué einfach seine Räume zu überlassen und das Wohl und Weh dieser Kinder irgendeinem Malermeister anzuvertrauen. Es ist kaum anders denkbar, als dass Pestalozzi sich selbst das Recht ausbedungen hat, die Kinder, die er durchaus nicht suchen musste, sondern die viel eher Schlange standen vor seinem Hause, selber auszuwählen und über einen einigermassen gerechten Lohn zu wachen. Dieses Interesse liess sich am besten wahren, indem er die Funktion des Personalchefs ausübte und die finanziellen Belange selber regelte.
  2. Für die These, dass es Pestalozzi darum ging, Laué für die Idee zu gewinnen, Arbeitsplätze für Kinder auf dem Neuhof zu schaffen, spricht auch, dass es keinerlei Hinweis darauf gibt, dass Laué sonstwo Kinder als Pinceauteuses eingesetzt hat. Wie mir Frau Ingrid Ehrensperger, eine profunde Kennerin der Materie, bestätigt, gibt es auch keine Belege, dass andernorts die Arbeit des Ausmalens und Ausbesserns Kindern anvertraut worden wäre. Dies war traditionsgemäss Frauenarbeit. Es ist nämlich zu bedenken, dass gerade das Ausbessern sehr anspruchsvoll ist, da es ein gut entwickeltes fachspezifisches Beurteilungsvermögen erfordert, was man bei Kindern nicht ohne weiteres voraussetzen kann. Pestalozzis soziale Leistung bestand demnach nicht bloss darin, Kindern Arbeitsmöglichkeiten zu eröffnen, sondern sie eine eigentliche Lehrzeit für den Pinceauteuse-Beruf unter Anleitung eines Malermeisters absolvieren zu lassen. Und wie so oft, hat er auch hier Tabus gebrochen, denn er engagierte nicht bloss - wie zu erwarten gewesen wäre - Mädchen, sondern, wie der erste Laué-Brief vom 3. August 1784 belegt, auch Knaben: "Ich ersuche, Überbringer zwei, höchstens drei Stuk von den allerlichtesten breitstrichen oder Dupfentüchern zu geben für die Buben, die anfangen" (PSB 3, 204). Gerade der letzte Satz zeigt, dass die Malerstube auf dem Neuhof somit keineswegs nur aus Gewinnrücksichten betrieben wurde, sondern als eigentliche Lehrwerkstätte. Wiederholt bittet Pestalozzi um einfache Muster für Anfänger, da die komplizierten für die Kinder zu schwierig sind. Das getroffene Arrangement zwischen Pestalozzi und Laué bedeutete für Letzteren somit ein Zugeständnis und ist auch belegt durch die Einfachheit der Muster, die auf dem Neuhof zu bearbeiten waren. In Mode waren nämlich vielfarbige Tücher mit komplizierten Ornamenten oder gar bildlichen Darstellungen, die in ihrer Differenziertheit einen Druck bis zu 10 Farben erforderten. "Um einen zehnfarbigen Artikel mit einem reichen Dessin herzustellen, benötigte man über 100 verschiedene Druckmodel und einen Zeitraum von mehreren Wochen, "lesen wir auf der Website der Firma Blumer in Schwanden im geschichtlichen Aufsatz "Wie Textildrucke entstehen". Der Brief vom 8. Juli 1785, einem Zeitpunkt also, wo das Mal-Atelier auf dem Neuhof bereits über eine einjährige Erfahrung verfügte, verrät, dass einige Kinder immer noch bloss für ganz einfache Arbeiten einsetzbar waren: "Womüglich sollten wir gemeine rothe Boden, einfarbige, haben. Die Zwyhendigen sind für einige Kinder zu schwer, und wir haben vast keine einhendigen roth Boden " (PSB 3, 219). Mit "einhändig", "zweihändig" usf. bezeichnete man die Anzahl der erfolgten bzw. benötigten Druckvorgänge. Wenn Pestalozzis Kinder bereits bei den zweihändigen Tüchern Mühe bekundeten, was hätten sie wohl bei zehnhändigen ausrichten können! Wir können aus all dem schliessen, dass Laué einiges in Kauf genommen hat, um den Kindern auf dem Neuhof eine ihnen angemessene Arbeit zu verschaffen. Dieses Entgegenkommen ist wohl nur zu verstehen im Hinblick auf die Freundschaft, die Pestalozzi mit Laué verband , und auf deren gemeinsame Idee der sozialen Verpflichtungen eines aufgeklärten Unternehmers. Im Übrigen zeigt auch Pestalozzis Bitte um einfachere Arbeiten und um Rücksichtnahme auf die Kinder einmal mehr, dass er kein Zulieferer sein konnte, denn als solcher würde er sich bloss lächerlich machen und den Ast, worauf er sitzt, abschneiden, wenn er den Auftraggeber anflehen würde, ihm leichtere Arbeit zuzuschanzen, da seine Arbeiter überfordert seien.
  3. Überhaupt zeigen die Laué-Briefe, dass sich Pestalozzi Laué gegenüber für die Kinder einsetzt. So bittet er etwa am 9. Februar 1785, "den Rest, den Sie noch haben, niemand anderem zu geben, damit (ich) womöglich die Kinder nicht fortschikken müsse" (PSB 3, 211). Dieser Satz liest sich durchaus nicht als das Wahrnehmen eines eigenen Interesses, sobald man davon Kenntnis genommen hat, dass Pestalozzi an der Arbeit der Kinder überhaupt nichts verdiente, sondern für seine freie Mitarbeitertätigkeit pauschal entschädigt wurde. Er weist auch darauf hin, dass Pestalozzi das Arrangement, das er mit Laué im Interesse der Kinder getroffen hatte, nicht unbedroht sah. Auch jene Passage des hier zentral behandelten Briefes Nr. 633, die belegt, dass die Kinder für verdorbene Tücher gerade stehen mussten, zeigt, dass Pestalozzi gegenüber Laué die Interessen der Kinder wahrnahm und auf keinen Fall ein Kleinunternehmer und als solcher ein Zulieferer Laués war, der sich mit Kinderarbeit den Lebensunterhalt verdiente. Es ist verschiedenen Laué-Briefen aus jener Zeit zu entnehmen, dass Pestalozzi der Zeugdruckerei in Wildegg für jedes verdorbene Taschentuch 10 Batzen bzw. einen Gulden (etwa der Lohn für anderthalb Tage) gutzuschreiben hatte. Dies muss einer zuvor getroffenen Abmachung zwischen Laué und Pestalozzi entsprochen haben und ist verständlich als Zugeständnis Pestalozzis an Laué, der mit Sicherheit und auch berechtigterweise um die Qualität und Verkäuflichkeit seiner Ware besorgt war. Pestalozzi konnte diese Bedenken nur zerstreuen, indem er darein einwilligte, dass die Kinder verdorbene Ware zu ersetzen hätten. Aus pädagogischer Sicht war dies für Pestalozzi freilich kein Problem, denn als Jünger von Rousseau war er durchaus der Überzeugung, dass der heranwachsende Mensch am nachhaltigsten lernt, wenn er eine reale Lebenssituation zu meistern und sich beim Versagen mit den Konsequenzen abzufinden hat. Dies entsprach vollkommen jenem Satz, den er später als berühmter Pädagoge in der "Lenzburger Rede" (1809), in der Altersfassung von "Lienhard und Gertrud" (1820) sowie im "Schwanengesang" (1826) immer wieder aussprechen sollte: "Das Leben bildet." Wenn nun aber Pestalozzi im einen besonderen Fall Laué um Angabe des Minderwertes bittet, den er dem Kind zu belasten hat, und ihm nicht einfach die 10 von Laué verlangten Batzen automatisch abzieht, so kann dies einzig im Interesse des Kindes und der Hoffnung entsprungen sein, das Taschentuch könnte im Verkauf noch etwas gelten und der Schaden könnte für das Kind kleiner ausfallen. Ein eigenes Interesse von Seiten Pestalozzis ist nicht erkennbar, denn so oder so belastete er dem von Laué festgesetzten und bezahlten Lohn des Kindes genau jenen Betrag, den Laué verlangte.