War Pestalozzi ein Ausbeuter?

Pestalozzi, die Indienne-Druckerei Laué und die Kinderarbeit

Kapitel 9 - Vorteile auf Seiten Pestalozzis ...

... hat es mit Sicherheit auch gegeben, auch wenn Pestalozzi ganz offensichtlich aus der Arbeit der Kinder keinen direkten Profit zog:

  1. So ist zuerst einmal anzunehmen, dass er seine seit dem Zusammenbruch der Armenanstalt leer stehenden Räume auf dem Neuhof Laué nicht unentgeltlich zur Verfügung stellte. Man wird ihm dies wohl nicht als Mangel an Menschlichkeit anlasten wollen.
  2. Des Weiteren entsprach das eben beschriebene soziale Engagement seiner Selbstidentifikation, und es ist daher ohne weiteres zu vermuten, dass es ihm lieb war, in der Umgebung, wo er sich bekanntlich bei vielen verhasst gemacht hatte, als Wohltäter wahrgenommen zu werden.
  3. Ferner hat sich Pestalozzi seine freie Mitarbeitertätigkeit auch bezahlen lassen, was wohl ganz unverdächtig ist. So lesen wir im Brief vom 30. Sept. 1785: "Ich habe gestern Dero Rechnung nebst mitgesandten zehen neu Louisdor richtig erhalten. Ich danke Ihnen für Ihre diesfelige Güte und versichere Sie, daß ich es mir fehrner angelegen syn lassen werde, Ihre hiesige Gescheffte so vill, als mir müglich ist, zu förderen" (PSB 3, 223). Er bestätigt also einerseits den Empfang in Rechnung gestellten Löhne und dankt andererseits verbindlichst für die für ihn bestimmten 10 neuen Louisdors und zwar auf eine Weise, dass man seine Angst, Laué könnte auf den Gedanken kommen, die Übung abzubrechen, deutlich heraushören kann. Auch dem Brief vom 2. Januar 1786 lässt sich entnehmen, dass es eine Entschädigungsvereinbarung zwischen Laué und Pestalozzi gab: "Die von Ihnen eben enfangenen fünf neuen Louisdor auf Rechnung des zwüschen Ihnen und mir stehenden disjährigen Verheltnisses bescheine hiermit richtig emfangen zu haben und erwiedere Ihnen ebenfahls die Wünsche der geendeten Jahrzeit" (PSB 3, 232). Um ein Monatsgehalt kann es sich bei diesen 5 neuen Louisdor - gleich 480 Batzen - kaum gehandelt haben, denn 1790 erhielt eine Malermeisterin pro Monat 200 Batzen. Es ist anzunehmen dass dies ein viertel- oder eher gar halbjährlich auszuzahlender Betrag war, jedenfalls nicht so viel, dass es gerechtfertigt wäre, diesen Betrag als Sicherung seiner Existenz anzusprechen.
  4. Bei den Vorteilen auf Seiten Pestalozzis mag auch daran gedacht werden, dass ihm die Zusammenarbeit mit Laué diesen vielleicht auch etwas geneigter gemacht hat, ihm immer wieder Geld vorzustrecken und bei allen Vertröstungen auf baldige Begleichung der Schulden leer zu schlucken. Offensichtlich hat Laué im Laufe der Zeit Pestalozzi bedeutende Summen ohne Sicherheit ausgeliehen. Angesichts der unsicheren Zeiten verlangte er dann mit Brief vom 24. April 1800 (PSB 4, 34) die Errichtung einer Hypothek zur Sicherstellung der Restschuld von 3192.7 Livres. Pestalozzi sagte ihm das beinahe begeistert zu und versicherte ihm, dass er noch unverpfändete Grundstücke besitze, nämlich - wie dann im Brief vom 28. Juni 1800 näher ausgeführt - "Hausgarten, Baumgarten und mehrere andere Stuk" (PSB 4, 40). Dass Pestalozzi im erstgenannten Brief Laué bescheinigte, er verdanke ihm seine "öconomische Errettung", dürfte als Versuch gewertet werden, den Gläubiger bei Laune zu halten, und glaubte der Schuldner wohl selber nicht ganz, weshalb er gleich im nächsten Satz relativierte: "Wenigstens haben Sie dadurch den schweren Gang meines Lebens unendlich erleichtert" (PSB 4, 34). Im Brief vom 28. Nov. 1801 entdecken wir dann Pestalozzis Bemühen, die Schuld zu tilgen, denn er verspricht Laué die Zusendung von zwei Obligationen, die die Erbengemeinschaft nach dem Tod seines Sohnes Jakob am 15. August desselben Jahres durch Pestalozzi in Burgdorf verkaufen lassen wollte, was darauf hinweist, dass sich Jakob bei Pestalozzi verschuldet hatte. In den Briefen vom 10. und 21. Februar 1802 erfahren wir weiter, dass offenbar immer noch nicht alle Schulden hypothekarisch abgesichert sind und dass sich Pestalozzi bemüht, einer entsprechenden Aufforderung nachzukommen. Im einzigen erhaltenen Brief des Hauses Laué, de Luze und Co. an Pestalozzi (6. September 1804) findet sich schliesslich eine Zusammenstellung aller Beträge, die Pestalozzi Laué schuldet. Dem Brief beigeheftet ist eine von Pestalozzi selbst verfasste Zusammenstellung der geleisteten Sicherheiten über insgesamt 1400 Gulden. Laué erwartet die Bezahlung des darüber hinausgehenden ungesicherten Betrages von 268.45 Gulden "Ihrem Versprechen zu F[olge] diesen Herbst, nebst den dazu gehörigen Zinsen vom ersten dieses Monaths bis zum Tage der Bezahlung" Anmerkung. Der Ton des Briefes ist betont kühl und sachlich und steht in krassem Gegensatz zur Überschwänglichkeit, mit der Pestalozzi seinen Gläubiger in seinen Briefen versöhnlich zu stimmen trachtet.

Auch Stadler kommt auf Pestalozzis Verschuldung bei Laué zu sprechen. Er erwähnt sie gleich nach seiner Feststellung, Pestalozzi hätte "diese Aktivität, die ihn wohl buchstäblich am Leben erhielt", gebraucht, und suggeriert so, der geschuldete Betrag belege gewissermassen die Bedeutung der Geschäftsbeziehung zwischen Pestalozzi und Laué. Doch die beiden Dinge stehen in keinem direkten Zusammenhang. Wäre dies der Fall, dann müsste Laué Pestalozzi als Zulieferer Geld schulden, und nicht umgekehrt. Keinesfalls darf man aus Pestalozzis Stellung als insolventem Schuldner und der daraus sich natürlicherweise ergebenden Dankbarkeit gegenüber Laué ableiten, die etwas überschwängliche Behauptung der "öconomischen Errettung" basiere auf Pestalozzis Tätigkeit als Kleinunternehmer. In jedem Fall steht diese deklarierte Errettung im Zusammenhang mit dem ausgeborgten Geld und nicht im Zusammenhang mit einer existenzsichernden Unternehmertätigkeit.