Die Menschengerechtigkeit

Nr. 203 (PSW 11, S.270-272)

Weibel und Schulze wünschten ihm Glück. Der neue Richter antwortete: "Ich will mich einmal nicht bestechen lassen."

Der Schulze erwiderte: "Das ist recht und wohlgetan. Tugend und Rechtschaffenheit sind immer die ersten Stützen des Staats, und hierin wird dem Herrn – er darf es versichert sein – unserseits gewiß niemand etwas in den Weg legen. Aber in die vorläufigen Abreden, die wir in jedem Falle miteinander treffen, wird der Herr doch hoffentlich auch eintreten!"

Der neue Richter wußte gar nicht, was das sagen wollte. Allein der Weibel, der sein alter Schulkamerad war, nahm ihn beiseits und sagte: "Es ist einmal bei uns so: eine Hand wäscht die andere, und wenn du es nicht mithalten wolltest, so würde es mit dem Nutzen und mit der Ehre deiner Stelle nicht viel sein."

Der neue Richter antwortete: "Ich will natürlich aus meiner Stelle auch ziehen, was jeder andere."

Der Schulze, der bald sah, daß er es näher gab, schlug ihm auf die Achsel und sagte: "Ich sehe schon, der Herr wird als ein freundlicher, braver, neuer Gerichtsbruder das Utile und das Honorifikum seiner Stelle sich nicht schmälern lassen, sondern auch, wie unsereiner, dahin trachten, daß das, was wir von unsern Voreltern empfangen haben, auch ungeschmälert auf unsere Nachkommen herabfließe."

Der neue Richter: "Ich werde mir es zur heiligsten Pflicht machen, diesen, in meiner Stellung, wie ich wohl sehe, höchst wichtigen Gesichtspunkt nie aus den Augen zu verlieren."

Aber er sah bei dieser Art so verwirrt und so betroffen aus, daß der Weibel es merkte und für gut fand, um ihm den Puls darüber noch mehr zu greifen, ihn noch einmal auf die Seite zu nehmen und ihm zu sagen: "Es wird dir freilich im Anfange gar nicht alles gefallen, was wir in unsern Abendstunden miteinander verabreden; aber wenn du einmal ein paar Jahre dabeigewesen sein wirst, so wirst du sicher finden, es sei in jedem Falle besser, daß wir uns verabreden und Freunde bleiben, als daß wir uns zanken und Feinde werden."

"Ja, ja", antwortete jetzt der neue Richter, "Streit und Zank ist in jedem Falle immer das allergrößte Übel."


Aber vom sich nicht bestechen lassen, und von der Tugend und Rechtschaffenheit, als den ersten Stützen des Staates war doch keine Rede mehr.

Es ist heiter, der neuerwählte Ratsherr muß nicht aus den alten und auch nicht aus den neueingeweihten Geschlechtern der Ratsfreunde gewesen sein, sonst hätte er in den ersten Tagen seiner Ratsherrnwahl zugunsten der lieben gemeinen Bürgerschaft ein wenig den Oppositions-Mann gegen die alte Ratsherrngewohnheit gespielt und dem Sprichwort: "Die neuen Besen wischen wohl", ein wenig Ehre zu machen gesucht; aber man sieht schon daraus, daß er den guten Ton der hohen Bürger im Städtchen nicht einmal kannte, da er sich von seinem alten Schulfreund, dem Weibel, als Ratsherr noch jetzt duzen ließ.