Briefe an Tscharner über die Erziehung der armen Landjugend
Niklaus Emanuel Tscharner betrachtete das Problem der Armenerziehung bzw. Armenbetreuung vom Standpunkt eines aufgeklärten und väterlich gesinnten Adeligen aus. Er hielt die alte Ordnung der Stände für die feste Grundlage der Gesellschaft. So schrieb er: "Regenten sollen zum Regieren, Städter zur gewerblichen Arbeit und Landleute zur Landwirtschaft erzogen werden. Jeder Stand ist wieder unterteilt, und jeder erfordert wieder eine gesonderte Bildung. Wir haben alles getan, wenn wir jeden Menschen in seinem Stand so gut gebildet als möglich und glücklich zu machen suchen." Tscharner ist davon überzeugt, daß sich jeder Mensch vervollkommnen und entwickeln kann, und legt auf die sittliche Erziehung des Menschen grossen Wert. Im Gegensatz zu Pestalozzi, welcher bekanntlich den Schulen gegenüber eher zurückhaltend war und sich insbesondere für die Verbesserung der Erziehung in der Familie einsetzte, erblickte Tscharner in den Schulen "das allgemeinste, das richtigste und beste Erziehungsmittel des Menschen". Er beschreibt nun in seinem eigenen Beitrag in den "Ephemeriden" (einer vom Basler Ratsschreiber Isaak Iselin herausgegebenen Zeitschrift für politische Ethik) mit ergreifenden Worten die wohltätige Wirkung einer Armenanstalt, welche in einer anmutigen, ländlichen Gegend liegt und wo die Kinder neben dem Schulbesuch den Feldbau lernen und im Grase spielen.
Im wichtigsten Punkt ist Pestalozzi mit Tscharner einverstanden: Er verfolgt wie dieser mit seinen Erziehungsmassnahmen sittliche Ziele. Was aber die Mittel und Wege betrifft, welche zu diesem Ziele führen sollen, widerspricht Pestalozzi seinem adeligen Freund entschieden. Auf keinen Fall will er die Armen nur zur landwirtschaftlichen Tätigkeit erziehen. Er sieht nämlich, daß die Kinder der Armen ja gar nicht über die Grundlagen - einen eigenen Bauernhof - verfügen, um diese Fertigkeiten einmal anwenden zu können, sondern daß die Zukunft in der Fabrikarbeit liegt.
Dabei muss man allerdings beachten, daß zu jener Zeit die Arbeit in den Fabrikstuben - es waren sehr oft wirkliche Stuben in grossen Bauernhäusern - noch völlig anders aussah als heute. In vielen Dörfern hatten Händler ihre Niederlassungen. Sie liessen Spinnräder und Webstühle in die Häuser der Bewohner stellen, brachten den Arbeitern die rohe Baumwolle, holten das fertige Tuch ab und entlöhnten sie entsprechend dem Arbeitsertrag. Andere Unternehmer stellten den Arbeitern ihre eigene Stube oder eigens dafür errichtete Spinn- und Webräume zur Verfügung. Als dann die Arbeiten des Spinnens und Webens zunehmend mechanisiert wurden, verschwand allmählich die Heimarbeit, und die Fabrikanstalt wurde die Regel.
Pestalozzi war nun überzeugt, daß sich das Problem der Armut nur lösen liess, indem man die Kinder der Armen dazu erzog, sich ihr Brot in der aufkommenden Industrie verdienen zu lernen. Zwar bezog er auch die Landwirtschaft in seine Erziehungspläne ein, aber nur im Rahmen des "kleinen Feldbaus". Es handelte sich dabei um die Fertigkeit, einen kleinen Acker so intensiv wie möglich für den Eigenverbrauch mit Feldfrüchten, Gemüse und Obst zu bepflanzen.
Pestalozzi sah im Plan seiner Armen-Erziehungsanstalt ganz klar Kinderarbeit in seinem Fabrikationsbetrieb vor. Als Mittel zur reinen Profitsteigerung lehnte er zwar die Kinderarbeit mit grösster Leidenschaftlichkeit ab, aber als Mittel, um die Anstalt zu erhalten und um die Kräfte und Anlagen der Kinder zu entfalten, galt sie ihm als unverzichtbar. In seinen Briefen stellt sich nun Pestalozzi entschieden gegen Tscharners Meinung, die Sittlichkeit liesse sich nur durch Feldarbeit erzielen und die Fabrikarbeit habe schon als solche einen sittenverderbenden Einfluss auf die Kinder. Entscheidend ist für ihn einzig, ob der Unternehmer tatsächlich die sittlichen Ziele erreichen will, was sich nicht zuletzt darin zeigt, daß er sich dem Kinde in einer personalen, väterlichen Liebe zuneigt.
Pestalozzis Liebe zu den Kindern ist ganz unsentimental, obwohl er sie gemäss vielen eigenen Zeugnissen innigst fühlt. Er verzärtelt und verwöhnt die Kinder nicht, sondern fordert ihnen etwas ab und mutet ihnen vieles zu. Er nimmt es in Kauf, daß er als hart bezeichnet wird, und lehnt die verwöhnende Erziehungsweise Tscharners ab. Er fordert demgegenüber, daß die Kinder für ihre spätere harte und karge Lebensweise tauglich gemacht werden müssen. Darum muss die Armenanstalt ein Abbild der späteren ärmlichen Haushaltung sein, und der Armenvater muss nicht nur die wahre Situation des Armen von Grund auf kennen, sondern selbst als Armer in Armut unter seinen Kindern leben.
Alle diese Gedanken münden ein in den berühmten Satz:
"Der Arme muss zur Armut auferzogen werden" (PSW 1, 143).
Dieser Satz gab, da man ihn oft aus seinem Zusammenhang herausriss, Anlass zu Missverständnissen und hat sogar zur Behauptung geführt, Pestalozzi handle im Interesse der Besitzenden, er wolle die Armen an ihren Stand ketten und verfestige damit die bestehenden ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse.
Gewiss ist, dass Pestalozzi ein ganz anderes Verhältnis zur Armut hatte als viele Menschen der heutigen Zeit. So hält er die Armut nicht von vornherein als ein zu beseitigendes Übel, und Mehrhaben betrachtet er nicht als Selbstzweck. Selbstverständlich ist für Pestalozzi, daß sich der Arme von der Armut befreien können soll, aber sie soll ihm nicht von aussen abgenommen werden, sondern er soll sie selber bemeistern. Dieses eigene Bemeistern der Armut hat nämlich bedeutsame pädagogische Konsequenzen: Die Aufgabe, die eigene Armut selbst zu überwinden, weckt im Menschen das Bedürfnis, seine eigenen Kräfte und Anlagen zu entfalten. Wer also seine eigene Armut besiegt, entwickelt und stärkt in sich seine Kräfte auf eine Weise, wie dies im Überfluss und im Reichtum nicht geschehen könnte. Armut ist damit eine echte Chance zur Menschwerdung. "Den Armen zur Armut auferziehen" heisst somit: ihn in die Lage versetzen, daß er die Armut nicht nur selbst überwinden kann, sondern dass er auch fähig ist, die Armut als ein Mittel zur Menschwerdung zu nutzen.
Nun weiss Pestalozzi freilich auch, daß es einen Grad von Armut gibt, bei dem der Mensch um seine nackte Existenz kämpfen muss und die in ihm den Gedanken an Vermenschlichung nicht mehr aufkommen lässt. Wenn also Pestalozzi die durchaus zumutbare Form der Armut die ärmlichen Verhältnisse positiv wertet und als eine Chance für den Menschen sieht, so muss doch auf der andern Seite dieser äusserte Grad von Armut, den er oft als "Elend" bezeichnet, mit allen Mitteln beseitigt werden. "Im Sumpf des Elends wird der Mensch kein Mensch" (PSW 3, S. 223), schreibt er etwas später in ‚Lienhard und Gertrud'. Pestalozzi rät also nicht nur dazu, die Armut selber als Mittel zur Menschwerdung und Versittlichung zu benutzen, sondern er ist sich auch der Grenzen dieses Mittels bewusst. So schreibt er 30 Jahre später:
"Man muss sich bei der Anerkennung dieser Mittel, die in der Lage des Armen für seine Bildung liegen, nicht täuschen. Der Arme kann so tief arm und die Lage, durch die sich seine Kräfte entwickeln sollten, so widernatürlich und zerstörend auf das Ganze seiner Bildung werden, daß die Vorteile, die er davon ziehen könnte, sich vor seinen Augen in einen Nebel auflösen, wie die Vorteile, die ein an Ketten liegender Dürstender von einem Glas Wasser ziehen könnte, das vor seinen Augen über glühendes Feuer gesetzt, sich in einen Nebel auflöst" (PSW 18, S. 69).
Pestalozzi stellt im 2. Brief an Tscharner umfangreiche Berechnungen über die zu erwartenden Einnahmen und Ausgaben an. Dabei bezieht er die Kinder vom 6. Altersjahr her allmählich in den Produktionsprozess ein, und er nimmt an, daß die Anstalt im ersten Jahr 25, in den folgenden 5 Jahren je 15 Kinder aufnimmt. Dabei will er ausschliesslich solche Kinder aufnehmen, welche in irgend einer Weise sehr benachteiligt sind: Behinderte, Schwächliche, Waisen; Kinder von Gefangenen oder Verschollenen; Kinder, die man nirgends zu sinnvoller Bauernarbeit benötigt und gebrauchen kann. Pestalozzi verspricht sich dadurch einen ökonomischen Vorteil gegenüber der verbreiteten Heimarbeit, daß er die Kinder in einem Fabrikhaus zur Arbeit anleiten, daß unnötiger Zeitverlust vermieden werden und daß durch engere Betreuung eine exaktere Arbeit geleistet werden kann. Seinen Berechnungen liegt die Annahme zu Grunde, daß ihm die Kinder einige Jahre mit Sicherheit überlassen werden.
Pestalozzis vorsichtige und sehr ins Detail gehende Berechnungen weisen für die ersten zwei Jahre einen Verlust, später einen steigenden Gewinn aus. Sie belegen, daß er durchaus nicht der weltfremde, unpraktische Träumer war, für den ihn heute viele halten. Wenn er seine Anstalt nach 5 Jahren wieder schliessen musste, so insbesondere darum, weil er keine Möglichkeit hatte, die Kinder für längere Zeit an sein Haus zu binden. Wie der 3. Brief zeigt, betrachtete Pestalozzi auch dann noch, als sich ein Misserfolg abzeichnete, die Grundsätze, auf welchen seine Anstalt beruhte, als richtig.
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Name:
Dr. Arthur Brühlmeier
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