Stans und der Stanser Brief

1798-1799

Stans wurde früh zum Ausgangspunkt des Mythos "Pestalozzi". Besonders die beiden bekannten Ölgemälde von Grob (1879) und Anker (1870) zeigen dies deutlich: Pestalozzi als Waisenvater inmitten der ihm zugewandten Kinder und alles umstrahlt von warmen Sonnenlicht. Aber die Realität während der kurzen Stanser Monate Pestalozzis sah anders aus.

Im März 1798 brach die Alte Eidgenossenschaft mit dem Einmarsch der französischen Truppen endgültig zusammen. Dadurch belebten sich Pestalozzis Hoffnungen, im Auftrag des neuen Staates seine Volkserziehungspläne verwirklichen zu können. Schon im Mai bot er in einer schriftlichen Eingabe an die Regierung seine Dienste "für eine wesentliche Verbesserung der Erziehung und der Schulen für das einfache Volk" (PSB 4, S. 15) an. Das Direktorium - die fünfköpfige Exekutive der "Helvetischen Republik" - bewilligte einen größeren Geldbetrag für die Einrichtung eines Instituts. Dessen Eröffnung zog sich aber hin, da man keinen geeigneten Ort fand.

 In den folgenden Monaten verstärkten sich die innenpolitischen Spannungen. Frankreich hatte aus der Alten Eidgenossenschaft - einer lockeren Verbindung von vielen kleinen und weitgehend selbständigen Staaten - einen zentralistischen Einheitsstaat mit teilweise beliebig gezogenen Grenzen für die Kantone und Verwaltungsdistrikte gemacht. Der Bevölkerung der einzelnen Kantone wurde aufgegeben, die Gefolgschaft gegenüber der neuen Verfassung durch einen Eid zu beschwören. Die Einwohner der katholischen Innerschweiz widersetzten sich diesem Ansinnen, nicht zuletzt, weil sie durch die von den Franzosen gebrachte neue Ordnung die freie Ausübung ihres angestammten römisch-katholischen Glaubens bedroht sahen. Die Helvetische Regierung drohte mit dem Einmarsch französischer Truppen, wodurch sich alle fügten außer dem kleinen Kanton Nidwalden. Um dessen Widerstand zu brechen, besetzten die Franzosen das Land, raubten, plünderten und steckten die Dörfer und den Hauptort Stans in Brand.

Pestalozzi hatte zuvor in seiner Funktion als Herausgeber des offiziösen "Helvetischen Volksblatts" den Einmarsch der Franzosen öffentlich gutgeheißen, da er die Einheit des Staats in Gefahr sah. Er hatte freilich nicht mit Blutvergießen und sinnloser Zerstörung gerechnet, sondern glaubte, die Anwesenheit der Truppen würde die Bewohner veranlassen, sich dem höheren Landesinteresse zu fügen. Er mag es daher als eine Art Wiedergutmachung empfunden haben, als die Regierung beschloss, in Stans eine Anstalt für die verwaisten Kinder zu eröffnen und ihm selbst die Leitung des Hauses zu übertragen. Damit hatte er sich allerdings eine außerordentlich schwierige Aufgabe aufgebürdet, denn die Bevölkerung war ihm gegenüber als einem Anhänger der Helvetischen Republik und als einem Protestanten feindlich eingestellt. Er konnte eigentlich nur auf die Unterstützung des in Stans tätigen katholischen Pfarrers Businger zählen, der innerlich auf der Seite der Neuerer stand. Die Anstalt wurde am 14. Januar 1799 eröffnet, und nach 6 Wochen waren es bereits über 80 Kinder, die von Pestalozzi und einer Magd betreut wurden. Pestalozzi warf sich mit seiner ganzen über Jahre aufgestauten Kraft in seine Erziehungsaufgabe. Er war entschlossen, seine pädagogischen Ideen, die er in den letzten 20 Jahren entwickelt hatte, nun in die Praxis umzusetzen. Voller Begeisterung schreibt er seiner Frau Anna, die sich auf dem Schloss Hallwil bei der Gräfin Franziska Romana von Hallwil aufhielt:

"Jetzt kann die Frage, was mein und Euer Schicksal sein werde, nicht mehr lange zweifelhaft sein. Ich unternehme eine der größten Ideen des Zeitpunkts. Hast Du einen Mann, der nicht mißkannt worden, sondern der Verachtung und der Wegwerfung wert ist, mit der man ihn allgemein behandelt, so ist für uns keine Rettung; bin ich aber unrichtig beurteilt und das wert, was ich selber glaube, so hast Du bald Hilfe und Rat von mir zu erwarten." (PSB 4, S. 18).

In Stans wollte er nicht einfach vorgefasste Ideen durchsetzen, sondern sich in seiner Tätigkeit stets durch die Erfahrungen des Lebens belehren lassen. Im Zentrum seiner Bemühungen stand die sittliche Erziehung der Kinder im Rahmen einer konkreten Lebensgemeinschaft und in Auseinandersetzung mit den Erfordernissen des Alltags. Dabei schwebte ihm eine Entwicklung der sittlichen Kräfte in einem dreistufigen Gang vor. Das Fundament bildete die Erzeugung einer "sittlichen Gemütsstimmung" im Zuge der Befriedigung primärer Bedürfnisse. Aufbauend auf dieser Gefühlsbasis sollte dann das Tun des Guten eingeübt und den Kindern zur Gewohnheit gemacht werden. Erst als drittes ließ er sie über Sittlichkeit reden, um in ihnen auf diese Weise rationale Begriffe des sittlichen Lebens zu entwickeln. Man erkennt in diesem dreistufigen Weg bei der Entwicklung der Sittlichkeit unschwer Pestalozzis Bestreben einer Verbindung von Fühlen (Herz), Handeln (Hand) und Denken (Kopf) sowie seine Absicht, ethisches Verhalten nicht primär - wie es aufklärerischem Denken entsprochen hätte - in der rationalen Einsicht, sondern im emotionalen Bereich zu verwurzeln. Die konkrete Gestaltung des Alltags kontrastiert allerdings deutlich mit heutigen Vorstellungen und Gebräuchen: Eigentlicher Schulunterricht fand morgens zwischen sechs und acht Uhr sowie abends zwischen vier und acht Uhr statt, die übrige Zeit wurde mit Arbeit und handwerklicher Ausbildung ausgefüllt. Seine Absicht, die praktische Arbeit mit gedächtnismäßigem Lernen von elementarem Wissen zu verbinden, konnte er nur ansatzweise in die Tat umsetzen, da ihm zur Organisation dieser anspruchsvollen Unternehmung zu wenig Zeit blieb.

Die kriegerischen Ereignisse in der Schweiz brachten es mit sich, dass die Räume im ehemaligen Frauenkloster in Stans, in denen Pestalozzis Anstalt untergebracht war, den Truppen für eine Militärlazarett zur Verfügung gestellt werden mussten. Offensichtlich war dem damaligen Regierungskommissar in Luzern, dem berühmten Heinrich Zschokke Anmerkung, die in seinem Einflußbereich stehende Armenanstalt ein Dorn im Auge, denn die Kritik an Pestalozzi war doch so allgemein, dass er dessen Tätigkeit kaum mehr als Propaganda für die neue Regierung werten konnte. So kam ihm denn das Bedürfnis nach einem Lazarett vermutlich nicht ungelegen, um Pestalozzis Wirksamkeit in Stans zu beenden. Die Kinder wurden größtenteils ihren Verwandten übergeben, lediglich 22 verblieben in der Obhut des erwähnten Pfarrers Businger, der seinerseits allmählich zu Pestalozzi auf Distanz gegangen war. Dieser verließ Stans am 9. Juni 1799. Er hatte sich physisch überarbeitet und litt psychisch unter dem plötzlichen Abbruch seines so hoffungsvoll begonnenen Versuchs praktischer pädagogischer Tätigkeit. So ergriff er das sich ihm bietende Angebot, einige Wochen zur Erholung im Gurnigelbad im Berner Oberland zu verbringen. Dort nutzte er die Zeit, um seine Erfahrungen und Überlegungen in seinem "Brief an einen Freund über meinen Aufenthalt in Stans" niederzuschreiben.

Der "Stanser Brief" gilt weithin als einer bedeutendsten pädagogischen Texte Pestalozzis und ist wieder und wieder in der pädagogischen Literatur abgedruckt, interpretiert und zitiert worden. Anmerkung: Der Stanser Brief ist nicht mehr im Original erhalten, er könnte an den Zürcher Buchhändler Heinrich Gessner gerichtet gewesen sein, der auch der Adressat der 14 Briefe "Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" war, aber auch an den pädagogisch interessierten Sekretär des helvetischen Ministers Stapfer, J. R. Fischer, der Pestalozzi den Aufenthalt im Gurnigelbad bei Zehender, dem von Pestalozzi begeisterten Wirt des Gurnigelbads, vermittelt hatte. Veröffentlicht wurde der Stanser Brief zusammen mit Anmerkungen Niederers erst 1807, als Pestalozzi seine Versuche in Burgdorf bereits hinter sich hatte und in Yverdon als Leiter seines dortigen Erziehungsinstituts zu europäischer Berühmtheit gelangt war, im ersten Band der "Wochenschrift für Menschenbildung". Im 9. Band der Cotta-Ausgabe von 1822 ist der Brief dann ohne Niederers Anmerkungen erschienen. Dieser Ausgabe folgt die Wiedergabe in der kritischen Gesamtausgabe von Pestalozzis Werken: PSW 13, S. 1-32.

Im folgenden werden einige Textpassagen aus dem "Stanser Brief" wiedergegeben:

Die Schilderung der Anfangsschwierigkeiten: Einmal die Situation der Kinder und einmal die Vorbehalte gegen Pestalozzi als Vertreter der Helvetischen Republik und als Reformierter in einem katholischen Ort

"Außer dem nötigen Geld mangelte es übrigens an allem, und die Kinder drängten sich herzu, ehe weder Küche noch Zimmer noch Betten für sie in Ordnung sein konnten. Das verwirrte den Anfang der Sache unglaublich. Ich war in den ersten Wochen in einem Zimmer eingeschlossen, das keine 24 Schuh ins Gevierte hatte. Der Dunstkreis war ungesund, schlechtes Wetter schlug noch dazu, und der Mauerstaub, der alle Gänge füllte, vollendete das Unbehagliche des Anfangs. Ich mußte im Anfang die armen Kinder wegen Mangel an Betten des Nachts zum Teil heimschicken. Diese alle kamen dann am Morgen mit Ungeziefer beladen zurück. Die meisten dieser Kinder waren, da sie eintraten, in dem Zustand, den die äußerste Zurücksetzung der Menschennatur allgemein zu seiner notwendigen Folge haben muß. Viele traten mit eingewurzelter Krätze ein, daß sie kaum gehen konnten, viele mit aufgebrochenen Köpfen, viele mit Hudeln, die mit Ungeziefer beladen waren, viele hager wie ausgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, mit Augen voll Angst und Stirnen voll Runzeln des Mißtrauens und der Sorge, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, des Heuchelns und aller Falschheit gewöhnt; andere vom Elend erdrückt, duldsam, aber mißtrauisch, lieblos und furchtsam. Zwischen hinein einige Zärtlinge, die zum Teil ehemals in einem gemächlichen Zustand lebten; diese waren voll Ansprüche, hielten zusammen, warfen auf die Bettel- und Hausarmenkinder Verachtung, fanden sich in dieser neuen Gleichheit nicht wohl, und die Besorgung der Armen, wie sie war, war mit ihren alten Genießungen nicht übereinstimmend, folglich ihren Wünschen nicht entsprechend. Träge Untätigkeit, Mangel an Übung der Geistesanlagen und wesentlicher körperlicher Fertigkeiten waren allgemein. Unter zehn Kindern konnte kaum eins das ABC. Von anderem Schulunterricht oder wesentlichen Bildungsmitteln der Erziehung war noch weniger die Rede. [...] Das unglückliche Land hatte durch Feuer und Schwert alle Schrecknisse des Krieges erfahren. Das Volk verabscheute größtenteils die neue Verfassung. Es war erbittert gegen die Regierung und hielt selbst ihre Hilfe für verdächtig. Durch seinen von Natur melancholischen Charakter hing es, allem Fremden als Neuerung abgeneigt, mit bitterer und mißtrauischer Hartnäckigkeit an dem ganzen Umfang seines alten, auch noch so elenden Daseins. Ich stand unter ihnen als ein Geschöpf der neuen verhaßten Ordnung. Zwar nicht als ihr Werkzeug, aber als ein Mittel in der Hand von Menschen, die sie sich auf der einen Seite im Zusammenhang mit ihrem Unglück dachten und von denen sie auf der anderen Seite im Ganzen ihrer sich vielfach durchkreuzenden Ansichten, Wünsche und Vorurteile unmöglich befriedigt werden konnten. Diese politische Mißstimmung war dann noch durch eine ebenso starke religiöse Mißstimmung verstärkt. Man sah mich als einen Ketzer an, der bei einigem Guten, das er den Kindern tue, ihr Seelenheil in Gefahr bringe. Diese Leute hatten noch nie einen Reformierten in irgendeinem öffentlichen Dienst, will geschweigen als Erzieher und Lehrer ihrer Kinder, in ihrer Mitte wohnen und in Tätigkeit gesehen, und der Zeitpunkt begünstigte das religiöse Mißtrauen im innigsten Zusammenhang mit dem politischen Zittern, Zagen und zum Teil Heucheln, das damals mehr als je, solange Stans steht, an der Tagesordnung war." (PSW 13, S. 5 und S. 8-9).

Die Textpassage zum Zusammenhang von öffentlicher und häuslicher Erziehung, mit der Pestalozzi die Entwicklung der öffentlichen Erziehung sehr stark beeinflußt hat

"Meine Überzeugung war mit meinem Zweck eins. Ich wollte eigentlich durch meinen Versuch beweisen, daß die Vorzüge, die die häusliche Erziehung hat, von der öffentlichen müsse nachgeahmt werden, und daß die letztere nur durch die Nachahmung der ersteren für das Menschengeschlecht einen Wert hat. Schulunterricht ohne Umfassung des ganzen Geistes, den die Menschenerziehung bedarf, und ohne auf das ganze Leben der häuslichen Verhältnisse gebaut, führt in meinen Augen nicht weiter als zu einer künstlichen Verschrumpfungsmethode unseres Geschlechts. Jede gute Menschenerziehung fordert, daß das Mutterauge in der Wohnstube täglich und stündlich jede Veränderung des Seelenzustandes ihres Kindes mit Sicherheit in seinem Auge, auf seinem Munde und seiner Stirn lese. Sie forderte wesentlich, daß die Kraft des Erziehers reine und durch das Dasein des ganzen Umfangs der häuslichen Verhältnisse allgemein belebte Vaterkraft sei. Hierauf baute ich. Daß mein Herz an meinen Kindern hänge, daß ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sei, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend, in jedem Augenblick auf meiner Stirn sehen und auf meinen Lippen ahnden." (PSW 13, S. 7-8).

Die drei Stufen der sittlichen Erziehung: "allseitige Besorgung" und Aufbau von Vertrauen, sittliches Handeln (das Beispiel der Kinder von Altdorf) und erst zuletzt die Reflexion und das Sprechen über das sittliche Handeln

"Indessen, so drückend und stoßend die Hilflosigkeit, in der ich mich befand, war, so war sie von einer anderen Seite dem Inneren meiner Zwecke günstig. Sie nötigte mich, meinen Kindern alles in allem zu sein. Ich war von Morgen bis Abend soviel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand. Jede Hilfe, jede Handbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Aug' ruhte auf ihrem Aug'. Meine Tränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stans, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige. Ich hatte nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Letzte, der ins Bett ging, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen, sie wollten es so. Alle Augenblicke mit Gefahren einer gedoppelten Ansteckung umgeben, besorgte ich die beinahe unbesiegbare Unreinlichkeit ihrer Kleider und ihrer Personen. Dadurch aber war es denn freilich auch allein möglich, daß sich die Kinder allmählich und einige innigst und so weit an mich anschlossen, daß sie dem, was sie Dummes und Verächtliches selbst von ihren Eltern und Freunden gegen mich hörten, widersprachen. Sie fühlten, daß mir Unrecht geschah, und ich möchte sagen, sie liebten mich doppelt dafür. Aber was hilft's, wenn die Küchlein in ihrem Nest ihre Mutter lieben, wenn der Raubvogel, der ihnen allen den Tod droht, täglich mit seiner Gewalt ob ihrem Nest schwebt! [...] Da Altdorf Anmerkung verbrannte, versammelte ich sie um mich her und sagte zu ihnen: "Altdorf ist verbrannt, vielleicht sind in diesem Augenblick hundert Kinder ohne Obdach, ohne Nahrung, ohne Kleidung, wollet ihr nicht unsere gute Obrigkeit bitten, daß sie etwa 20 dieser Kinder in unser Haus aufnehme?" Ich sehe die Rührung, mit der ihr "ach ja, ach mein Gott ja" begleitet war, noch jetzt vor meinen Augen. "Aber, Kinder", sagte ich dann "denkt dem nach, was ihr begehrt. Unser Haus hat nicht Geld soviel, als es will, es ist nicht sicher, daß wir um dieser armen Kinder willen mehr als vorher bekommen. Ihr könnt also in die Lage kommen, um dieser Kinder willen mehr für euren Unterricht arbeiten zu müssen, weniger zu essen zu bekommen und sogar eure Kleider mit ihnen teilen zu müssen. Sagt also nicht, daß ihr diese Kinder wünscht, als wenn ihr euch alles dieses um ihrer Not willen auch gern und aufrichtig gefallen lassen wollt." Ich sagte dies mit aller Stärke, die mir möglich war, ich ließ sie selber wiederholen, was ich gesagt hatte, um mich sicher zu stellen, daß sie deutlich verstehen, wohin ihr Anerbieten führe, aber sie blieben standhaft und wiederholten: "Ja, ja, wenn wir auch schlechter zu essen bekommen und mehr arbeiten und unsere Kleider mit ihnen teilen müssen, so freut es uns doch, wenn sie kommen. [...] Der Umfang der sittlichen Elementarbildung beruht überhaupt auf den drei Gesichtspunkten, der Erzielung einer sittlichen Gemütsstimmung durch reine Gefühle, sittlicher Übungen durch Selbstüberwindung und Anstrengung in dem, was recht und gut ist, und endlich der Bewirkung einer sittlichen Ansicht durch das Nachdenken und Vergleichen der Rechts- und Sittlichkeitsverhältnisse, in denen das Kind schon durch sein Dasein und seine Umgebungen steht." (PSW 13, S. 9-10, S. 16 und S. 19).

Und an anderer Stelle heißt es:

"Der Mensch will so gerne das Gute, das Kind hat so gerne ein offenes Ohr dafür; aber es will es nicht für dich, Lehrer, es will es nicht für dich, Erzieher, es will es für sich selber. Das Gute, zu dem du es hinführen sollst, darf kein Einfall deiner Laune und deiner Leidenschaft, es muß der Natur der Sache nach an sich gut sein und dem Kind als gut in die Augen fallen. Es muß die Notwendigkeit deines Willens nach seiner Lage und seinen Bedürfnissen fühlen, ehe es dasselbe will. Alles, was es lieb macht, das will es. Alles, was ihm Ehre bringt, das will es. Alles, was große Erwartungen in ihm rege macht, das will es. Alles, was in ihm Kräfte erzeugt, was es aussprechen macht "ich kann es", das will es. Aber dieser Wille wird nicht durch Worte, sondern durch die allseitige Besorgung des Kindes und durch die Gefühle und Kräfte, die durch diese allseitige Besorgung in ihm rege gemacht werden, erzeugt. Die Worte geben nicht die Sache selbst, sondern nur eine deutliche Einsicht, das Bewußtsein von ihr." (PSW 13, S. 8).

Pestalozzis Aussagen zum Unterricht: Die Verbindung von Unterricht und Industriearbeit, das System der Hilfe der Kinder untereinander und die Elementarisierung des ersten Unterrichts, damit diesen die Mütter selbst übernehmen können.

"Überhaupt achtete ich das Lernen als Wortsache in Rücksicht auf die Worte, die sie lernen mußten, und selbst auf die Begriffe, die sie bezeichneten, für ziemlich unwichtig. Ich ging eigentlich darauf aus, das Lernen mit dem Arbeiten, die Unterrichts- mit der Industrieanstalt zu verbinden und beides ineinander zu schmelzen. Allein ich konnte diesen Versuch um so weniger realisieren, da ich dafür noch gar nicht, weder in der Rücksicht des Personals noch der Arbeiten noch der dazu nötigen Maschinen, eingerichtet war. Kurze Zeit vor der Auflösung erst hatten einige Kinder mit Spinnen angefangen. Und auch das war mir klar, daß, ehe von einer solchen Zusammenschmelzung die Rede sein konnte, erst die Elementarbildung des Lernens und des Arbeitens in ihrer reinen Sonderung und Selbständigkeit aufgestellt und die besondere Natur und Bedürfnisse eines jeden dieser Fächer klar gemacht sein mußten. [...] Die Menge und Ungleichheit der Kinder erleichterten meinen Gang. So wie das ältere und fähigere Geschwister unter dem Auge der Mutter den kleineren Geschwistern leicht alles zeigt, was es kann, und sich froh und groß fühlt, wenn es also die Mutterstelle vertritt, so freuten sich meine Kinder, das, was sie konnten, die anderen zu lehren. Ihr Ehrgefühl erwachte, und sie lernten selber doppelt, indem sie das, was sie wiederholten, andere nachsprechen machten. So hatte ich schnell unter meinen Kindern selbst Gehilfen und Mitarbeiter. Ich machte sie in den ersten Tagen einige sehr schwere Wörter auswendig buchstabieren, und so wie eines das Wort konnte, nahm es sogleich etliche, die es noch nicht konnten, zu sich und lehrte dieselben. So bildete ich mir von Anfang Gehilfen. Ich hatte in kurzem unter meinen Kindern Mitarbeiter, die in den Fertigkeiten, die Schwächeren das, so diese noch nicht konnten, zu lehren, mit der Anstalt immer vorgerückt und für die Augenblicksbedürfnisse der Anstalt ohne Zweideutigkeit brauchbarer und vielseitig brauchbarer geworden wären als angestellte Lehrer. [...] Mein Zweck dabei war, die Vereinfachung aller Lehrmittel so weit zu treiben, daß jeder gemeine Mensch leicht dahin zu bringen sein könne, seine Kinder zu lehren und allmählich die Schulen nach und nach für die ersten Elemente beinahe überflüssig zu machen. Wie die Mutter die erste Nährerin des Physischen ihres Kindes ist, so soll sie auch von Gottes wegen seine erste geistige Nährerin sein. Und ich achte die Übel, die durch das zu frühe Schulen und alles das, was an den Kindern außer der Wohnstube gekünstelt wird, erzeugt worden sind, sehr groß. Jener Zeitpunkt nähert sich, sobald wir die Unterrichtsmittel so vereinfachen werden, daß jede Mutter ohne fremde Hilfe selber lehren und dadurch zugleich immer selbst lernend fortschreiten kann. Meine Erfahrung bestätigt hierin mein Urteil. Ich sah in meinem Kreise Kinder emporwachsen, die darin meine Bahn verfolgt hatten. Auch bin ich mehr als je überzeugt: Sobald die Lehranstalten jemals mit Kraft und Psychologie mit Arbeitsanstalten verbunden werden, so wird notwendig ein Geschlecht entstehen, das einerseits durch Erfahrung lernt, daß das bisherige Lernen nicht den zehnten Teil der Zeit und Kraftanwendung bedürfe, die gewöhnlich darauf verwendet wird, andererseits, daß dieser Unterricht der Zeit, der Kräfte und der Hilfsmittel halber mit den häuslichen Bedürfnissen so in Übereinstimmung gebracht werden könne, daß die gemeinen Eltern allenthalben sich selbst oder jemand von ihren gewöhnlichen Hausgenossen dazu geschickt zu machen suchen werden, welches durch die Vereinfachung der Lehrmethode und durch die steigende Anzahl vollendet geschulter Menschen immer leichter werden wird." (PSW 13, S. 26, S. 29 und S. 30).