Die Pestalozzi-Feiern 1927 und 1946. Skizze einer Klassiker-Rezeption in der deutschen Pädagogik.
Peter Dudek
In: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung, Bd. 3.; Weinheim: Juventa 1996, S. 67-91.
Peter Dudek setzt sich mit den Pestalozzi-Feiern 1927 und 1946 auseinander, ausführlich mit 1927, eher beiläufig mit 1946. Am 17. Februar 1927 fiel in Preußen der Schulunterricht aus, an seiner Stelle sollten an allen Schulen unter Teilnahme der Elternschaft Pestalozzi-Feiern abgehalten werden. Aus der Pestalozzi-Literatur des Jubiläumsjahrs 1927 und aus den Berichten und Programmen von Pestalozzi-Feiern arbeitet Dudek vier Typen der Rezeption heraus, die sich in der Realität der Feiern dann allerdings vermischten:
- Sakralisierung.
Vor allem die Lehrervereine sehen in geradezu sakraler Sprache in Pestalozzi einen Heiligen der Erziehung, dem es nachzufolgen gelte. - Instrumentalisierung.
Pestalozzi wird von allen pädagogischen oder bildungspolitischen Lagern vereinnahmt. Einmal ist er der erste Entschiedene Schulreformer, dann der Wegbereiter der Arbeitsschule, der Begründer der Kleinkinderziehung, der Heil- und Sonderpädagogik und schließlich auch der Klassiker der Sozial- und Fürsorgeerziehung. - Aktualisierung.
Diese bezieht sich nicht mehr auf die Elementarmethode und auch kaum auf die Ganzheitlichkeit von Kopf, Herz und Hand, sondern Pestalozzi wird zum Propheten schlechthin, steht für die erzieherische Aufgabe, für Kultur und gegen Zivilisationsverderben: er steht für die Lösung aller sozialer und individueller Konflikte durch Erziehung. - Dogmatisierung.
In der Unsicherheit der disziplinären Aufgabenbeschreibung einer sich zunehmend spezialisierenden Disziplin steht Pestalozzi für den Kern und die Gemeinsamkeiten aller pädagogischer Aufgabenfelder, für pädagogische Haltung und pädagogisches Ethos schlechthin.
In Deutschland und der Schweiz fanden 1927 neben einigen zentralen Festveranstaltungen (Brugg, Zürich, Berlin, Frankfurt/Main) unzählige regionale und lokale Pestalozzi-Feiern statt. Besonders Eduard Spranger tat sich bei der Klassiker-Inszenierung hervor, während Nohl und Litt Pestalozzi stärker historisierten, indem sie ihn der "Deutschen Bewegung" zuordneten. Skeptische Distanz wahrte auch die Philologenschaft, die ihr professionelles Selbstbild schon immer weniger aus der Figur des Pädagogen als aus der des Gelehrten ableitete. Ausführlich geht Dudek auf Bernfelds polemische und eigenwillige Pestalozzi-Rezeption ein ("Sisyphos oder über die Grenzen der Erziehung" (1925) und die beiden Aufsätze "Der Irrtum des Pestalozzi" und "Sankt Pestalozzi" von 1927), der aus psychoanalytischer Sicht Pestalozzis theoretische Konzepte für eine große aber unwissenschaftliche Intuitätsschöpfung hält, da Pestalozzi einen von den eigenen Kindheitserfahrungen geprägten naiven Kindheitsbegriff entwickelt habe und dessen Heiligsprechung durch die gesamte Pädagogenschaft daher geradezu komisch wirke. Mit dieser Einschätzung verbaute sich Bernfeld sogar die Wahrnehmung eines Lehrauftrags an der Berliner Humboldt-Universität.
Im Jubiläumsjahr 1946 suchte die akademische Pädagogik und die Lehrerschaft gleichermaßen in Ost wie West noch einmal Orientierung bei dem Klassiker Pestalozzi, der gesellschaftliche Erneuerung über die sittliche Erneuerung der Familien und ihrer Erziehungsaufgabe versprach. Zwischenzeitlich sind wir zwar von Formen hagiographischer Huldigung bekehrt und Pestalozzis Konzepte der Umlegung politischer Probleme auf die Erziehung gelten als überholt, aber dennoch hält sich Pestalozzi nach wie vor neben Rousseau, Comenius, Humboldt und Schleiermacher in der Spitzengruppe bei Seminar- und Vorlesungsthemen der akademischen Pädagogik, bei der Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen und bei der Anzahl der seinem Werk entnommenen Zitate und Belege.