Briefe an Peter Petersen (leicht gekürzt)
Redaktion und Kommentar: Arthur Brühlmeier
Rechtschreibung und Interpunktion entsprechen nicht der Kritischen Ausgabe von Pestalozzis Schriften, sondern der regularisierten Fassung auf der CD-ROM.
Peter Petersen war Hauslehrer beim Basler Kaufmann Felix Battier, der mit Pestalozzi befreundet war. 1783 erklärte sich Battier bereit, zu seinen eigenen drei Kindern auch noch Pestalozzis Jacqueli bei sich aufzunehmen und durch Petersen bilden zu lassen. Die Briefe Pestalozzis an Petersen belegen, daß sich der Mann vom Neuhof schon früh mit dem Detail von Bildung und Erziehung befasste und die aufgeworfenen Fragen mit viel Tiefsicht und Sachverstand abhandelte. Bemerkenswert ist, daß sich Pestalozzi nicht mit dem Entwickeln allgemeiner pädagogischer Grundsätze zufrieden gibt, sondern alles unternimmt, um die Battier-Kinder als Individualitäten zu erfassen und dem Hauslehrer auf der Grundlage dieser Einsichten zu raten. (Siehe dazu auch Brief 569 in PSB, S. 148 ff., der hier nicht wiedergegeben wird.)
Zahlreich sind die Themen, die Pestalozzi anspricht: Bildung der fünf Sinne; Bedeutung von Gesundheit, Ruhe und Schlaf für die Sinnesbildung; Anschauung als Grundlage abstrakten Denkens; Bildung des Urteils auf der Basis der Anschauung; Bedeutung der Nachahmung; Erziehung zum richtigen Beten; Umgang mit schlechten Beispielen; Freiheit in der Freizeit; Bedeutung des Spiels; Vorrang der Herzensbildung gegenüber der notwendigen Gegenwirkung gegen das Unerwünschte; langsames Reifenlassen statt Scheinfrüchte durch ungesundes Voreilen.
Bemerkenswert ist auch, daß sich Pestalozzi die Mühe nahm, den Kindern Battier persönlich zu schreiben. Dabei wählte er die Sprache, die die Kinder verstehen konnten, teilweise sogar bewusst die Mundart, und nutzte natürlich die Gelegenheit, sie zu einem guten Leben zu ermutigen und sie anzuregen, ihm selber möglichst Genaues über ihr eigenes Leben zu schreiben (siehe hierzu die Briefe Nr. 566, 567 und 568 in PSB 3, S. 144 ff.). Als am 15. Mai 1783 Rosina, das jüngste der Battier-Kinder vierjährig starb, setzte sich Pestalozzi sofort hin und schrieb für die beiden älteren Kinder Felix und Gertrud sowie ihren Lehrer Peter Petersen eine kleine Szene, die ihnen helfen sollte, den Tod der kleinen Rosina zu verarbeiten (siehe Brief 580 in PSB, S. 171 ff.).
Lieber Herr Petersen!
... Ihre Bemerkung, daß es gut sei, überhaupt alle Sinne der Kinder sehr zu verfeinern, ist an sich richtig. Doch hat dieser Grundsatz folgende Schranken: Man muss durch Verfeinerung der Sinne die höheren Seelenkräfte nicht erniedrigen und die Ausbildung der Fertigkeiten, die unsere höheren Pflichten von uns fordern, nicht erschweren.
Allgemeine Verfeinerung der Sinne ohne starke Übung im Überwinden aller sinnlichen Gelüste führt leicht auf Irrwege.
Zu höheren Zwecken für Berufsbestimmung, Weisheit und Menschlichkeit ist unter allen Sinnen keiner notwendiger zu schärfen und auszubilden als das Gesicht, nach ihm das Gehör; die übrigen Sinne darf ich meinem Kind nie, ohne seine höheren Bedürfnisse fest im Auge zu haben, zu verfeinern suchen.
Zum Exempel: Das Gefühl ist schädlich verfeinert, wenn die Hand durch ihre Empfindsamkeit von ihrer Stärke und Arbeitsleichtigkeit verlöre.
Der Geruch ist schädlich verfeinert, wenn ein Kind bei unangenehmen Ausdünstungen, (denen) in seinem Beruf und Lage nicht immer auszuweichen (ist), wie z.B. Steinkohlengeruch, alsobald unausstehlich leiden würde.
Für den Geschmack ist die vorzüglichste Sorge, ihn rein zu erhalten, in seiner Einfachheit. Das heisst aber, ihn wenig und selten stark brauchen; die Anstrengung des Geschmacks ist sein Tod. Hierin kann man nicht zu weit gehen, nämlich in der Vorsicht, ihn beim Kind nicht anzustrengen, sondern denselben in seiner unverdorbenen Reinheit bleiben zu lassen. Das fordert aber nicht so fast Übung, als das Gegenteil, nämlich schwache ungewürzte Speisen, viel kaltes Wasser und dergleichen.
Überhaupt ist Vorsorge für die Sinne mehr in der allgemeinen Sorge für das ganze Wohlbefinden des Körpers als im Detail Vorsorge für die einzelnen Sinne zu erzielen.
Gesund sein und recht tun macht gut sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen, und hierzu hat mir die Erfahrung für Kinder nichts Bewährtes erwiesen als allgemein, für ein jedes Kind besondere Lage bestimmte, ununterbrochene, eingelenkte Tätigkeit, und dann so viel Schlafen und Ruhe, als man ohne Besorgnis einer seiner Lebenspflicht schädlichen Trägheit immer nur geben kann. Anmerkung
Der Schlaf ist Balsam der Natur für Leib und Seele. Er heilt die Verwirrung des Tags und die Egarements der Kunst (Anmerkung: "Kunst" ist hier als Gegensatz zu "Natur" verstanden und meint jede kulturell bzw. zivilisatorisch bedingte Verhaltensweise), die, wenn wir sie selber heilen müssten, gewiss tausendmal unheilbar wären.
Lieber Herr Petersen! Die Natur führt alle Menschen nur langsam zum Denken und Abstrahieren; mit unerschöpflichem Reichtum stellt sie uns tausenderlei Sachen und Bilder dar. Diese Bilder recht anzuschauen und von allen Seiten betrachten ist das Mittel, zu richtigen Kenntnissen von dem Unterschied, der in allen Sachen ist, zu gelangen.
Die Natur will also, daß der Mensch durch ruhiges, stilles, festhaltendes Anschauen und Betrachten aller der Dinge, die vor ihn kommen, sich in Stand stelle, nach und nach richtige Urteile über diese Gegenstände zu fällen.
Die Kunst und Schule bringt dem Menschen das Urteil in den Kopf, ehe er die Sache sieht und kennt, daher die Schulmenschen, Gelehrten, Wissenschaftler etc. fast alle samt und sonders so im täglichen Leben unbrauchbare Geschäftsmenschen sind und so gemeiniglich weder die Sache selber, von der sie reden, noch die Menschen, mit denen sie handeln und wandeln, kennen. Es ist also ein vorzügliches Bedürfnis der guten Auferziehung, daß dieser Klippe ausgewichen werde und das Kind um aller Liebe willen nicht allzu früh akademisch erzogen werde; lieber im Stall, in der Küche, im Garten, in der Wohnstube, als massleidig beim Buch und mit nassen Augen abstrahierend.
Vollends richtig ist Ihr Begriff: Sehenlassen und Nachahmen muss dem Urteilenlassen vorgehen. Liebster Herr Petersen, der Trieb der Neugier und der Nachahmung ist Gottes Werk, durch den er den Menschen alles lehrt, was er wahrhaft kann. Vater, Mutter, Lehrern bleibt nichts übrig, als diesen Trieb auf Gegenstände, die den Kindern vorzüglich wichtig (sind), zu lenken.
Aber hier liegt die grosse Schwierigkeit, daß seine Lehrer sehr heiter denken müssen, welches die eigentlichen Gegenstände seien, die seinem Lehrling sehr wichtig (sind); und hier ist's wieder wie immer: Der Erzieher muss den künftigen Haushalter mehr als das lernende Kind im Auge haben. Hält er sich an diesem fest, so wird er in allen Winkeln des Hauses Spiel und Lehre fürs Kind finden, und findet er das nicht, so wird er sein Kind nicht gut erziehen, er mag es sonst so weit mit ihm bringen, als er will !!! Ich führe diesen Gedanken nicht weiter aus, denn ich bin sicher, Sie denken ihn in seiner ganzen Ausdehnung.
Lieber! Ihre Bemerkungen über (das) Gebet sind an sich alle wahr. Eine jede Gedankenlosigkeit und eine jede veranlasste Laune ist an sich ein Übel; aber Dank sei Gott, daß er uns armen Menschen tausend Gegenmittel gegen tausend Übel, die in unseren Lagen gemeiniglich so unvermeidlich sind, zeigt.
Lieber! Ich habe einen Knaben von 11 ½ Jahren; er kann keine zwei Linien Gebete auswendig, er kann weder schreiben noch lesen. Ich hoffe zu Gott, diese Unwissenheit, in welcher die Vorsehung mir erlaubt, ihn lassen zu können, werde das Fundament seiner vorzüglichen Ausbildung und seiner besten Lebensgeniessungen sein. Aber, Lieber, in der Welt sind die Lagen unaussprechlich selten, wo so ein Gedanke nicht an sich auffallende Narrheit wäre! Ein einziges Kind eines anders geführten Nachbarn würde mein Werk zerstört und unmöglich gemacht haben, und ich hätte mich mit Geduld und Zufriedenheit meinem Schicksal unterworfen, wenn ich ihn auch in seinem dritten Jahr hätte beten, hätte lesen und schreiben machen müssen. Ich hätte, mein Lieber, das Übel freilich nicht kleiner betrachtet, als es ist, aber den Schaden der Lage mir doch auch nicht übertrieben vorgestellt, sondern vielmehr ruhig gesucht, aus dem notwendigen Übel meiner Lage den besten Nutzen für mein Kind zu ziehen und dem Schädlichen, so die Sache unzweideutig hat, anderweitig entgegenzuarbeiten.
Lieber! Es ist ein herrliches Ding um die Biegsamkeit der menschlichen Natur. Da verderbt der Zufall ein Kind hundertmal auf einer Seite, aber Gottes Vorsehung baut oft mitten im Verderben einer Stunde die Grundlagen der Weisheit und Glückseligkeit seiner künftigen Jahre. Alle unausweichlichen Hemmungen, Lieber, sind uns von der Hand der Vorsehung in (den) Weg gelegt, und was diese tut, ist im ganzen gewiss nicht übel, Lieber! Zu allen Zeiten sind viele tausend Menschen beim täglichen Gebet und bei ärgerlich früher Angewöhnung zu dieser Sitte wahrhaft weise, glücklich und brauchbar worden. Das beweist also unzweideutig, daß der Fehler dieses Voreilens nicht notwendig gedankenlos, launig und bösartig mache.
Unstreitig ist dieses Voreilen eine unter den vielen Veranlassungen, welche die Kinder gemeiniglich zur Gedankenlosigkeit, zur Laune, zum Missmut haben, auch mir ganz nicht unbeträchtlich. Aber was folgt daraus? Wie mich dünkt, nicht mehr, als daß man das Gewicht dieser Veranlassung zur Gedankenlosigkeit, zur Laune, zum Missmut kenne und um so viel mehr den übrigen Teil der Auferziehung zur Aufmerksamkeit, zur Bedächtigkeit und zur Bildung eines frohen, heiteren und ruhigen Sinnes hinlenke.
Betrachten Sie, mein Lieber, die ganze Auferziehung unserer Alten! Die Weisheit im ganzen Geist ihres Lebens tötete die Folgen des unsinnigsten Fehlers ihrer bürgerlichen und religiösen Vorurteile und Sitten.
Der Eindruck einer einzelnen Sache für Kinder wird nie überwiegend. Bedächtigkeit kann beim täglichen Rosenkranz und gute Laune kann im Klosterzwang erzielt werden, wenn der Führer weise genug ist, alles zum Hauptendzweck zu lenken.
Damit aber sage ich nicht, daß man nicht soviel möglich das Gebet der Kinder verständig leite und alles tue, daß sie immer mit Freude und gutem Willen beten.
Ich sage nur, wo es nicht von uns abhängt, alle Worte des Betens der Kinder frei zu bestimmen, da dürfe man, wenn die Hauptbegriffe der Liebe zu Gott und Menschen und der Hoffnung des ewigen Lebens dem Kind heiter und warm im Herzen (sind), wegen der Unverständlichkeit einiger Nebenbegriffe nicht in allzu grosser Sorge sein.
Und was Zeitbestimmung und besorgliche böse Laune betrifft, da, mein Lieber, hat die Sache wieder ihr Gutes, sobald dem Kind einmal gesagt ist: Das Glück deines Lebens hängt von deinem Gebet ab; Gott will, daß du zu ihm betest, und die Eltern befehlen, daß du es zu gewissen Stunden tust. Denn, mein Lieber, Laune hin und Laune her: es ist ein wesentliches Bedürfnis des menschlichen Lebens, daß das Kind frühe seine Laune überwinde und auch wider seinen Willen tue, was es muss. Und wenn es auch schon für einmal das, so es tun muss, in seiner Laune nicht recht tut, es wird durch seine Überwindung weise werden und durch seine Weisheit denn schon recht beten lernen. Es versteht sich aber, daß seine Weisheit und sein Rechttun und Rechtbeten durch jedes andere Mittel mit Sorgfalt befördert und erzielt werden muss doch einmal genug hievon.
In Beziehung des Einflusses des bösen Beispiels möchte ich noch dieses nachholen. Die Verachtung der Kinder gegen fehlerhafte Leute ohne viel Worte abzulenken und zu verhüten, scheint mir wesentlich; alle Anlässe zu ergreifen, die Kinder die gute Seite dieser bösen Leute recht auffallend zu machen, und wo es möglich, den Kindern, die sich etwa Spott oder Verachtung erlauben wollten, ins Auge springen zu machen, daß eben Leute vielleicht just Vorzüge haben, die ihnen, den Kindern, mangeln, und um derentwillen Papa und Mama diesen Hausgenossen ihre Fehler verzeihen; und überhaupt, sobald sich ein Schatten Menschenverachtung in ihren Kindern zeigen sollte, denn eilen Sie, die schlechteste Seite, die sie selber haben, ihnen augenblicklich und beschämend auffallend zu machen. Und wenn sie sich schämen und erröten, denn werfen Sie ihnen das gute Wort Goethes: "Wer bist du? Was hast du getan, daß du verachten darfst?" mit ernstem Blick ins Herz; der Hang zur Verachtung muss mit Beschämung, und nicht mit Räsonnement ausgelöscht werden.
In Beziehung des Hangs zur Nachahmung muss, wie mich dünkt, das Kind, wenn es freie Stunden hat, denselben fast ohne Einschränkung befriedigen dürfen; das Schädliche, so sich einmischt, muss freilich genau beobachtet und gehindert werden. Aber die Erfahrung wird Ihnen zeigen, daß dieses Schädliche eigentlich nicht vom Nachahmungstrieb, sondern von andern Fehlern, die das Kind sonst hat und die sich in seinen Nachahmungsspielen nur äussern, abhängt, weshalb man hier wieder den Unarten und Fehlern, welche den Nachahmungstrieb verunstalten, zu Leibe muss, und nicht eigentlich der Freiheit des Kindes und der Lust seiner Nachäffung Hindernisse in den Weg legen soll. Man kann nicht genug wünschen, daß die Spiele der Kinder ganz frei seien; wo sollten wir sie sonst kennenlernen? Wenn wir sie nicht hier und wenn wir sie nicht durch und durch kennen lernen, so werden wir sie auch nicht durch und durch gesund erhalten. Also ist's auffallend besser, den Quellen des Bösen, welches sich zuzeiten in Grimasse und Unanständigkeiten, welches sich bisweilen in den freien Stunden bei den Spielen der Kinder äussert, durch Einflössung wahrer innerer Bescheidenheit und Achtung gegen alle Menschen Einhalt zu tun, als dem Detail ihrer kleinen Torheiten, Grimassen, Verspottungen etc. allzusehr aufzusitzen und hierdurch das Leben ihrer Spiele zu verderben und sie von uns wegzuscheuchen. Man muss machen, daß das Böse, das sich unter diesen Kindertorheiten so offen äussert, durch allgemeine innere Veredelung des Kopfs und des Herzens von sich selber wegfalle.
Diese allgemeine Veredelung des Kopfs und des Herzens ist auch das einzige wahre Mittel, der jugendlichen Leichtigkeit, seinen ersten Trieben blindlings zu folgen, ihre echten Schranken zu setzen; denn an sich selbst ist dieses Folgen seiner Triebe wahre Naturbildung. Seine Übel sind meistens nur durch unsere Konvenienzverhältnisse so gross, und so sehr wir unsere Kinder diesen Konvenienzverhältnissen gemäss auferziehen müssen, so dürfen wir die erste Grundstimmung ihrer Naturbildung doch nicht allzusehr ersticken. Eilen mit Veredelung des Kopfs und des Herzens, daß der Hang, ihren Naturtrieben zu folgen, vom Übergewicht ihrer höheren inneren Kräfte bemeistert und geleitet werde, das ist die Bahn, auf welcher Ihre Kinder allein ihre besten Kräfte nicht verlieren und doch zu dem Ziel der Ordnung und Biegsamkeit gelangen werden, welche zu erreichen uns Menschen so notwendig ist.
Aber das Rückstossen ihrer Neigungen ohne innere Empfindung höherer Pflichten und Endzwecke macht nur schwache, erdrückte und zurückhaltende Menschen, ohne geraden freien Sinn, ohne innere Kräfte und ohne eigenes Ziel und ohne eigenen Mut; und das ist das entsetzlichste Unglück, welches die irreführende Schule so oft über Kinder von besten Anlagen verhängt. Lieber Herr Petersen, setzen Sie sich diesen Gesichtspunkt zu einer Ihrer ersten Erziehungsregeln, insbesondere bei Ihrem Knaben, vor! Lieber Herr Petersen, ich muss hier abbrechen für heute; nächstens beantworte ich Ihnen den noch übrigen Teil Ihres Schreibens. Ich danke Ihnen für Ihre Bemerkungen und bitte Sie, soviel ich kann, um alle möglichen Details von Ihren Kindern.
Ich umarme Sie und bin in Eile Ihr gehorsamster Freund und Diener Pestalozzi. (PSB 3, S. 135)
Neuhof, den 24. April 1782
Lieber Herr Petersen!
Ich danke Ihnen sehr für die Freundschaft Ihres Schreibens sowohl, als für alle Gefälligkeit und Liebe, so Sie mir in Basel erzeigt (haben). Ich wünschte von Herzen, imstande zu sein, Ihnen irgendwo Gegengefälligkeiten erweisen zu können.
Ihre Bereitwilligkeit, mich in Stand zu stellen, Ihre lieben Kleinen ganz kennenzulernen, ist mir unaussprechlich schätzbar, und ich werde Ihnen hierfür zeitlebens verbunden sein.
Lieber Herr Petersen, ich bin fern von allen Anmassungen und weit entfernt, Ihnen Bemerkungen mitteilen zu können, die Ihnen unterrichtend sein könnten; daß ich vielmehr diesfalls ganz zu Ihnen komme, um von Ihnen zu lernen, was ich gern wissen möchte, und also wie abgeredet alle Komplimente beiseits (lasse). Sie kennen meinen Zweck, und ich danke Ihrer Güte, daß Sie mir darin an die Hand gehen wollen; also fange ich mit aller Freimütigkeit an, meine Bitte näher zu bestimmen.
Die Hauptfähigkeiten und Anlagen des Menschen haben alle eine so vielseitig nuancierte Mischung, daß wir bei den allgemeinen Ausdrücken Verstand, Witz, Scharfsinn etc. nie nichts Bestimmtes denken können. Alle unsere Anlagen sind uns nur insoweit eigen, als sie im Ganzen unseres Charakters eingewoben (sind). Folglich müssen wir, um einen Menschen genau und richtig zu kennen, ihn in Momenten und Augenblicken handeln sehen, wo seine Anlagen in einer auffallenden Verbindung seines ganzen Totalcharakters hervorstechend erscheinen. Lieber Herr Petersen, das Individuum ist in allen seinen Teilen immer einzig und ausgezeichnet. Der Witz eines Menschen ist so ungleich als seine Stirne! Also muss der Freund, der von ferne Menschenkenntnis sucht, seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Details werfen, sonst wird er so irregeleitet und erhält nur allgemeine Ideen, durch die er unmöglich zu einer sicheren und festen Kenntnis gelangen kann.
Aus diesen Betrachtungen nehme die Freiheit, Sie zu bitten, ob Ihnen nicht gefällig sein möchte, in der Absicht, sich selbst und mich so geschwind und bestimmt als möglich über die eignen Anlagen unserer lieben Kinder zu erheitern und auf feste Ideen zu bringen, alle Antworten, die Ihnen charakteristisch scheinen, alle Traits, die über die Nuance ihrer Anlagen Licht geben, so wie sie Ihnen nach und nach auffallen, mit ein paar Worten aufzuzeichnen und, wenn ihre Eltern es erlauben, es dann mir zuzeiten zu kommunizieren. Man muss einen Menschen tief verfolgen, um ihn ganz kennenzulernen, und der Fall ist sicher auch beim Kind; und sicher hängt der Erfolg aller Menschenlehre ganz vom Ausstudieren des Menschen, den man unter seinen Händen hat, ab.
Verzeihen Sie mir meine Freimütigkeit, mein lieber Herr Petersen, und gönnen Sie mir das Vergnügen, mich zuzeiten mit Ihnen über Ihre lieben Kinder besprechen zu können! Ich versichere Sie, daß (Sie) mir in der Welt mit nichts mehr wahres Vergnügen machen. Leben Sie recht wohl und glauben Sie, daß ich mit aufrichtigem Herzen bin Ihr ergebener Pestalozzi. (PSB 3; S. 135 f.)
den 6. Mai 1782
Lieber Herr Petersen!
Ich freue mich, daß Sie so gern die Mühe nehmen wollen, mich mit den Ihnen auffallenden Detailnuancen Ihrer lieben Kleinen bekanntzumachen.
Erlauben Sie mir inzwischen, mich mit Ihnen über einige Gegenstände der Auferziehung zu unterhalten und Ihnen das, was mir im Lauf der Auferziehung eines geliebten Kindes am wichtigsten vorkam, mit der Einfalt zu sagen, mit welcher ein Mensch, der mehr Vater als Auferzieher war, davon reden kann.
Lieber Herr Petersen, der wichtigste Fehler der heutigen Auferziehung ist gewiss dieser: Man will zu viel von den Kindern und zu viel Sachen, die nur etwas scheinen und nichts sind. Alle ihre Sinne richtig gebrauchen zu lehren, ist das erste, und untrüglichen Wahrheitssinn in ihre Seele zu bringen.
erhältnisse, Distanzen auf dem Papier und im Garten abzumessen und zu beurteilen, ist der einfachste Weg, ihre Köpfe ohne Gefahr, fremde Meinung einzumischen, zu üben. Lieber Herr Petersen, zerschneiden Sie Ihrem Knaben Papier von ungleichem Mass mit ungleichen Ecken, aber so, daß ein geübtes Auge alle Stücke wieder zusammenbringen und zu einem Ganzen machen kann, so werden Sie seinen Kopf mehr üben und zu einer richtigen Urteilskraft vorbereiten, als mit den meisten gewohnten, wortreichen Lehrübungen, mit denen unser büchervolles Zeitalter die Jugend - ich möchte wohl sagen: unnatürlich - zu frühzeitigen Früchten antreibt, die aber dann immer trotz aller Blüten im wesentlichen ausbleiben.
Lieber Herr Petersen, die Menschen werden durch das frühe Weittreiben unglücklich und schwach; reif werden lassen ist der Weg der Natur und die wahre Lehrart. Das Kind muss notwendig dieser Meisterin folgen.
Sie übt beständig, das ist richtig, aber sie braucht das unendlich Verschiedene gewiss aller Vorfälle und Umstände, unter denen wir leben, und bildet unsere Begriffe durch die einfache Darlegung alles dessen, was immer uns umgibt. Sie lässt uns immer tausendfach lang und auf verschiedene Art sehen, ob sie ein Urteil von uns fordert.
Und dieses Zurückhalten des Urteils, bis wir genug gesehen und gehört und nun sozusagen aus der Fülle unserer Überzeugung reden und urteilen müssen, ist wahrlich das Wesentliche in der Grundlage des Menschen zur Bedächtigkeit und echter Weisheit. Lieber Herr Petersen, ich weiss wohl, ein Kind, bei dem man diesen Weg einschlägt, brilliert nicht frühe bei Basen und Prädikanten; aber sein stilles Reifen wird immer aufmerksame Eltern befriedigen, denen es um das wahre Wohl und die späteren Jahre ihrer Kinder zu tun ist.
Es ist gewiss kein grösseres Unglück für den Menschen, als wenn er in seinen ersten Jahren zu einem voreilenden Urteil und zur unruhigen Flüchtigkeit in Betrachtung der Gegenstände geführt wird, die lange Aufmerksamkeit verdient. Und das Unglück für Kinder ist so viel gewöhnlicher, da wir sie zu wörtlichen Antworten gewöhnen, bei deren Anhörung wir vergessen, daß sie keine Begriffe von den Sachen selber haben, von denen sie reden. Ich habe dieses bei meinem Knaben in nichts deutlicher gesehen als in den Zahlen. Es war mir die grösste Hindernis, den wahren Realunterscheid von 2 und 3 ihm in Kopf zu bringen, weil er die Worte 2 und 3 etc. im Kopf hatte, ohne etwas dabei zu denken. Tausendmal richtiger lehrt der Mensch rechnen, wenn er zuerst in Sachen den Realunterscheid der Zahlen sieht, als wenn ihm die Zahlenunterscheidung im Einmaleins ins Gedächtnis gebracht worden, ehe er den Realunterschied dieser Verhältnisse in den Sachen selber gesehen und in Kopf gebracht hat.
Und so ist es in allem. Wo Wörter und Urteile dem Überlegen und Anschauen voreilen, da ist denn Überlegen und unbefangen Anschauen doppelt schwer. ...
Leben Sie wohl und seien Sie meiner aufrichtigen Ergebenheit versichert, womit ich die Ehre habe zu sein, mein lieber Herrn Petersen, Ihr gehorsamer Diener Pestalozzi. (PSB 3, S. 141 ff.)