Scherer, Heinrich
Die Pestalozzische Pädagogik nach Ihrer Entwicklung, ihrem Aus- und Aufbau und ihrem Einfluss auf die Gestaltung des Volksschulwesens
Leipzig 1896, 312 S.
Der Berufsweg von Heinrich Scherer (1851-1933) führte vom Lehrerseminar in Friedberg zu einer Anstellung als Schulgehilfe und über Studien in Darmstadt 1873 zum Lehrer an einem Gymnasium in Giessen verbunden mit der Tätigkeit am dortigen pädagogischen Seminar. 1888 wurde er Kreisschulinspektor in Worms und 1904 in Büdingen und ab1912 Kreisschulrat in Offenbach. In diesen Jahren verfasste Scherer zahlreiche Werke zur Wirtschaft, zum Religionsunterricht, zum Verhältnis von Kirche und Staat und zur Geschichte der Pädagogik. Besonders hervorzuheben ist seine Auseinandersetzung mit Pestalozzi,1896 erschien sein umfassendes Werk zu Pestalozzis Pädagogik anlässlich von dessen 150.Geburtstag.
Bei einer ersten Durchsicht dieser Veröffentlichung fällt die systematische Gliederung auf, die die Entwicklung und den systematischen Aufbau der Pestalozzischen Pädagogik, deren Aufbau und ihren Einfluss in der Schweiz, Österreich, Dänemark, Russland und in einzelnen deutschen Staaten nachzeichnet. Scherers Text ragt mit dieser umfassenden systematischen Darstellung von Johann Heinrich Pestalozzi deutlich aus den Veröffentlichungen seiner Zeit heraus, die sich zumeist biographisch, punktuell oder in erzählender Form Pestalozzi näherten.
In Kap. I. „Entwicklung und systematischer Aufbau der Pestalozzischen Pädagogik“ (S.18-90) geht Scherer in einem ersten Teil auf die Werke „Abendstunde eines Einsiedlers“ ,“Lienhard und Gertrud“, „Nachforschungen“, das Waisenhaus in Stanz, „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“, “Ansichten und Erfahrungen“, “Rede über die Idee der Elementarbildung“, „Reden an sein Haus“ und „Schwanengesang“ ein. Einen zweiten Teil überschreibt Scherer mit: „Systematischer Aufbau der Pestalozzischen Pädagogik“. In Kap. II. „Ausbau der Pestalozzischen Pädagogik“ (S.91-206) nennt Scherer Vorläufer, Zeitgenossen und Nachfolger von Comenius über Herbart bis zu Schleiermacher und geht auf die Details des Anschauungsunterrichts ein. In Kap. III. beschreibt Scherer die „Entwicklung des Volksschulwesens unter dem Einflusse der Pestalozzischen Pädagogik“ (S. 207-281) wobei es um den Einfluss Pestalozzis in einzelnen Staaten von der Schweiz über Preussen bis Sachsen geht.
In dem aufschlussreichen Schlusskapitel „Rückblick“ (S. 282-306) setzt sich Scherer ausführlich mit den Elementarmitteln des Unterrichts und der Anschauung als Ausgangspunkt alles Erkennens auseinander. Anschauung sei bei Pestalozzi nicht allein sinnliche Wahrnehmung, sondern fordere immer zugleich Selbsttätigkeit. Bei Pestalozzis Idee der Elementarbildung trete neben der formellen Seite der Bildung die allgemeine Menschenbildung in den Vordergrund, die zugleich von sozialen Gedanken durchdrungen sei. Im Ganzen stellt Scherer Pestalozzi in die Tradition von Comenius, Rousseau und den Philanthropen, die er aber alle überrage durch den Fortschritt seiner pädagogischen Ansichten und die Nachhaltigkeit seiner Wirkung. Scherer sieht Pestalozzi als künstlerischen Geist, dessen pädagogische Gedanken mit geradezu instinktiver Gewalt zur Einheit fänden. Allerdings gelinge es ihm nicht immer, seine Gedanken zu einem klaren Ausdruck zu bringen und nicht immer sei die Gedankenfolge zwingend und in sich abgeschlossen.
An Scherers Veröffentlichung beeindruckt die analytische Gesamtschau von Pestalozzis Wirken, wobei der Autor Pestalozzi nicht einfach bejubelt oder gar ein völkisch orientiertes Bild zeichnet. Bei aller Wertschätzung Pestalozzis wird auch eine distanzierte Sicht deutlich, wenn Scherer schreibt. “Er hat unstreitig vieles mehr mit dem Gemüt als mit dem Verstande erfasst; in seinen Ideen ist unstreitig viel Unausgegohrenes, viel unbestimmtes Ahnen ohne sichere Erkenntnis, ja nicht wenig Widerspruch; der Mangel an einer wissenschaftlichen Durchbildung hat den Mangel an scharfem, logischem Denken und klarem Ausdruck zur Folge.“ (S. 284).
Das 1896 erschienene Buch von Heinrich Scherer ragt aus den Veröffentlichungen seiner Zeit heraus, es besitzt ein Literaturverzeichnis und ein Register, leider fehlen die Quellenangaben zu den angeführten Zitaten. Das Buch von Scherer ist dankenswerter Weise als Faksimile von Scherers Urenkel Heinz-Dieter Knöll erneut herausgegeben worden.
(Gerhard Kuhlemann)