Spranger, Eduard

Pestalozzis Denkformen

2., stark erw. u. veränderte Aufl., Heidelberg 1959, 152 S., Anhang.

I.

Eduard Spranger (1882-1963) war als Philosoph, Pädagoge und Psychologe ein Vertreter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und hat die pädagogische Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt. Er war von 1919 bis 1945 Professor an der Universität Berlin und ab 1946 Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Von seinen zahlreichen Werken sind vor allem die „Psychologie des Jugendalters“ (Leipzig 1924) und „Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie und Ethik der Persönlichkeit“ (Halle 1921) zu nennen. In der Pestalozzi-Rezeption ist Spranger als Mitherausgeber von Pestalozzis Sämtlichen Werken (PSW 1-29) hervorgetreten  . In seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Pestalozzi sind mehrere Texte entstanden, seine Veröffentlichung zu Pestalozzis Denkformen hat die Pestalozzi-Rezeption stark beeinflusst. Der Text von Spranger gliedert sich in vier Teile, zuerst steht Sprangers „Gedenkrede, gehalten auf Einladung der Universität Zürich am 18. Februar 1927“ (S. 11-29), es folgt der Beitrag zu „Pestalozzis Denkformen“ (S. 31-90), der den Titel dieser Veröffentlichung vorgegeben hat, danach der Beitrag „Pestalozzis ‚Nachforschungen‘. Eine Analyse“ (S. 91-115) und zuletzt „‘Das Leben bildet‘. Analyse von Pestalozzis ‚Schwanengesang‘“ (S. 117-149). Der Veröffentlichung ist eine Gliederung der „Nachforschungen“ und des „Schwanengesangs“ als Anlage beigefügt.

Die Haltung Sprangers zum Nationalsozialismus ist umstritten: In der Zeit der Weimarer Republik steht Spranger der deutschnationalen Volkspartei nahe und in der Würzburger Erklärung vom April 1933 wird die nationalsozialistische Machtübernahme begrüsst, aber zugleich die Autonomie der Universität betont. Spranger behält bis 1945 die Leitung des Pädagogischen Seminars an der Berliner Universität, allerdings wird schon 1933 parallel unter dem NS-Pädagogen Alfred Baeumler (1887-1968) ein Institut für Philosophie und Politische Pädagogik eingerichtet.

II.

Im Vorwort schreibt Spranger, dass sich das von ihm vorgestellte Gerüst über Pestalozzis Denkweise als Ergebnis von mehr als 40 Jahren der Beschäftigung mit Pestalozzi entwickelt habe (S.7). Sprangers Gedenkrede von 1927 an der Universität Zürich beginnt mit einer eher hagiographischen Annäherung an Pestalozzi, er verbindet mit diesem ein Grundgefühl der „Ehrfurcht“, dessen Gedanken seien zu einem „Menschentum von schlichter Grösse ausgereift“ (S. 11). Nicht die biographischen Daten von Pestalozzis Leben stehen im Mittelpunkt, sondern die Interpretation seiner Gedanken, die sich aus seinen biographischen Einflüssen entwickelt haben. Spranger beginnt mit den drei Lebenskreisen Pestalozzis: Als Kind die mütterliche Wohnstube, als Schüler und Student die Heimatstadt Zürich und mit dem Leben auf dem Neuhof das Land und die Gesellschaft. In den vier Bänden von „Lienhard und Gertrud“ entdeckt Pestalozzi das „Volk“ als Menschheitsordnung, wobei die „Wohnstubenkraft“ zum Muster aller menschlichen Verhältnisse wird (vgl. S. 13). Mit der Französischen Revolution und den Erlebnissen von Stans festigen sich, was Pestalozzi schon in den „Nachforschungen“ formuliert hatte, die drei Schichten des menschlichen Lebens, die naturhafte bzw. tierische, die gesellschaftliche und die sittliche, nur durch letztere ist der Mensch zur Veredelung fähig. Die „Methode“ wird dabei zur Anwendung dieser Gedanken, Erziehung wird die „bewusste Handbietung für diesen Gang der Natur vom Sinneswesen zum sittlichen Menschen“ (S. 17). Spranger geht ausführlich auf den Begriff „Volk“ und dessen Bedeutungswandel in jenen Jahren ein: „Volk wird nicht mehr als die niederste Klasse der Menschheit, als der grosse Haufen verstanden, sondern als die Gemeinschaft reifer, selbständiger Menschen, die im Sinne des allgemeinen, freien und gleichen Staatsbürgertums den neuen Staat zu tragen berufen sind“ (S. 21). Nach Spranger hat Pestalozzi in diesem Sinne das Volk neu entdeckt und „den grossen Gedanken wahrer Volksbildung zuerst gedacht“ (S. 27). Eine allgemeine Volksbildung muss die Grundlage jeder Bildung ausmachen und als Höchstes spannt sich über alle Eigengesetzlichkeit der Welt der „göttliche(n) Bogen der Liebe, die aus dem Grunde der Seele aufsteigt und alles geteilte Leben mit seiner Not und seiner Schuld zurücknimmt in die heimatliche Geborgenheit der Gottnähe“ (S. 28).

III.

Im Mittelpunkt von Sprangers Veröffentlichung steht der Beitrag zu „Pestalozzis Denkformen“. In der Fragestellung (S. 31-35) bezeichnet Spranger Pestalozzi als einen „geborenen Sprachgewaltigen“, der seine eigene Fachsprache entwickelt habe. Wenn Pestalozzi seine Hauptgedanken in oft ermüdenden Wiederholungen ausführt, erklärt sich dies aus seiner „kreisenden“ Gedankenwelt, die sich nicht in gerader Linie fortbewegt. Während der frühe Pestalozzi noch an einer Wiederherstellung patriarchalischer Formen der Volksführung glaubt, wird ihm mit der Französischen Revolution klar, dass die gesamte ständische Ordnung der Gesellschaft hinfällig ist: Das Industriekind der neuen Epoche muss ganz anders gebildet werden wie das in seinen Beruf hineinwachsende Bauernkind, es braucht eine innere Selbständigkeit, eine „Selbstkraft“ dieses neuen Menschen (vgl. S. 35).

Im Zentrum von Pestalozzis „Denkformen“ stehen die sich erweiternden Lebenskreise: Der erste Kreis sind die häuslichen Verhältnisse, hier liegen die Wurzeln aller künftigen Sittlichkeit und Religion. Später hat Pestalozzi diesen Lebenskreis als Wohnstube bezeichnet. Der zweite Lebenskreis betrifft die Arbeit und den Beruf, aber Berufs- und Standesbildung muss immer dem Zweck der Menschenbildung untergeordnet sein. Der dritte Kreis umfasst Staat und Nation. Diese konzentrischen Kreise durchdringen sich gegenseitig, Religion wird dabei zum Veredelungsmittel für den Menschen. Unter dem Einfluss von Kants Ethik und der Französischen Revolution kommt Pestalozzi in den „Nachforschungen“ zu seinen Gedanken der drei Zustände: Der Naturzustand, in dem sich die zwei Triebrichtungen, der Trieb der Selbstsucht und der Trieb des Wohlwollens zeigen, der gesellschaftliche Zustand, in dem Gewalt durch das Recht gezügelt wird, quasi ein Damm gegen die Gefahr der Selbstsucht. Der sittliche Zustand, also Sittlichkeit kommt ganz aus dem Innern des Individuums, es ist somit die innerste Veredelung der menschlichen Natur. Sittlichkeit ist nicht ein Ergebnis des Zusammenlebens der Menschen, sondern hat ihren Ursprung in der Tiefe des Individuums. Dies ist ganz im Sinne Kants und Spranger zitiert die entscheidende Stelle aus den „Nachforschungen“: „Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbständig; ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgend einer andern Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: Ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will.“ (S. 44 und PSW 12, S. 105). Aber Pestalozzi geht über Kants Ethik der Pflicht hinaus, über das instinktartige Wohlwollen des Naturzustands und der Güte des gesellschaftlichen Zustands kommt Pestalozzi zu Liebe und Religion. Beides entspringt ganz der einsamen Individualität des Menschen, denn Sittlichkeit ist allein Sache der Individualität des Einzelnen, Pestalozzi spricht von „Individuallage“. Die drei Zustände sind eng miteinander verbunden, auch Sittlichkeit knüpft an die natürliche Basis, die Wohnstube, an: „jede Erziehung, die ihre Aufgabe begreift, muss Kultur der Innerlichkeit sein, muss den werdenden Menschen durch die Liebe und zur Liebe veredeln“ (S. 49). Keine bürgerliche Verfassung kann den Menschen veredeln, dies kann immer nur das Individuum selbst. Pestalozzis Gedanke der elementaren Menschenbildung erwächst aus diesen Gedanken. Im Stanser Brief spricht er von „Kraftbildung“, Erziehung muss die Innenkräfte des Menschen in Bewegung setzen. In seinem Werk „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ wird Pestalozzis Vorstellung der Elementarmethode deutlich: Er beschreibt darin die Trias von Kennen, Können und Wollen, also die intellektuelle, die physische und die sittlich-religiöse Bildung. Grundlage der intellektuellen Bildung ist die Anschauung, die sich zum einen auf die innere Anschauung bezieht, auf der das Wesen der Sittlichkeit beruht und zum andern auf die Anschauung, die auf den Erkenntnisgewinn zielt. Im einzelnen geht Spranger auf die Anschauungskunst, die Messkunst, die Zeichnungskunst und die Schreibkunst ein, wobei Pestalozzi die Sprachlehre auf Schall, Form und Laut elementarisierte. Hier konstatiert Spranger allerdings ein „unglückselige(s) Zerschlagen der Sprache“ (S. 59). Ein Widerspruch ergibt sich aus dem Gedanken der Subjektbezogenheit des Erkennens und der objektiv-systematischen Anordnung der Gegenstände des Erkennens, es zeigt sich hier das Grundproblem jeder Didaktik, psychologische und logische Gesichtspunkte im Unterricht miteinander zum Ausgleich zu bringen. Bei der Bildung der Fertigkeiten wendet sich Pestalozzi gegen die Einseitigkeit der bestehenden Körperbildung wie Fechten, Tanzen und Reiten. Dagegen sei Leibeserziehung ein wesentlicher Teil der allgemeinen Menschenbildung, wenn der Trieb des Kindes nach Tätigkeit zum Ausgangspunkt wird, wobei auch hier die liebevolle Besorgung des Kindes durch die Mutter am Anfang steht, dem sich das Tun des Kindes nach seinen natürlichen Bedürfnissen anschliesst. Pestalozzi verbindet die Bildung der Fertigkeiten mit der Industriebildung, auch das Industriekind soll ein ganzer harmonischer Mensch werden, die Veredelung des Menschen muss aber immer von der Individuallage des einzelnen Individuums ausgehen.

Auf die religiös-sittliche Elementarbildung geht Pestalozzi im 13. und 14. Brief von „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ näher ein. Religion und Sittlichkeit entfaltet sich primär im Menschen, „im Innersten meiner Natur“ (S. 72). Das Urgefühl entfaltet sich aus dem Liebesband zwischen der Mutter und dem kleinen Kind, die Mutter muss dieses Gefühl veredeln und weiterentwickeln. Wenn das Kind sich von der Mutter zu lösen beginnt, besteht die Gefahr, dass sich die Selbstsucht entwickelt, „wenn nicht die erwärmende Kraft der ‚Innerlichkeit‘ hinzukommt, aus der allein Sittlichkeit und Veredelung erwachsen“ (S. 73). Nur wenn man den Ewigen in sich selbst erkannt hat, können sich daraus höhere sittliche Gefühle entwickeln, das Gewissen erwachen und ein Bewusstsein der Pflicht und des Rechts entstehen (vgl. S. 74).

Spranger verfolgt die Weiterentwicklung der „Methode“ in einem eigenen Kapitel: „Umbildung der Grundbegriffe in der Spätzeit und abschliessender religiöser Standpunkt“ (S. 80-90). Obwohl Pestalozzi seine „Methode“ in der Schulstube und nicht in der Wohnstube entwickelt hat, verweist er immer stärker darauf, dass Erziehung beim Säugling beginnen muss. Die Wohnstube tritt in den Vordergrund und lebenslang ist bei ihm ein Misstrauen gegenüber den öffentlichen Schulen sichtbar. Für Pestalozzi erscheint die Methode und die in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ beschriebene Elementarisierung in seiner Spätschrift „Schwanengesang“ in Teilen als lebensferner Formalismus, die Anschauung tritt jetzt in den Vordergrund. Erhalten bleibt „die Forderung nach harmonischem Gleichgewicht in der Bildung aller Kräfte. Herz, Geist und Tat (oder Anschauen, Sprechen, Denken und physisches Können) müssen zu einer lebendigen Ganzheit zusammenwirken. Hierfür tritt jetzt der neue Name Gemeinkraft auf, der Pestalozzi im ‚Schwanengesang‘ ausdrücklich einen Abschnitt widmet“ (S. 85). Wenn Pestalozzi den Gedanken ausspricht „das Leben bildet“, so gilt immer: Man hat für das Leben und seine Realverhältnisse zu bilden. Schwierig bleibt bei Pestalozzi die Frage nach Religiosität und Christentum. Glaube und Liebe werden in der Wohnstube geboren. In der Frage, ob menschliches Bemühen Religion hervorbringen kann, bleibt er unentschieden. Gnade versteht Pestalozzi nicht im Sinne christlicher Dogmatik, sondern eher mystisch, sie ist im Menschen bereits als göttlicher Funke vorhanden. Die methodische Elementarbildung kann das Göttliche nicht in den Menschen pflanzen, aber sie kann dem, was im Menschen bereits vorhanden ist, heraushelfen (vgl. S. 89-90).

IV.

In diesem Teil seiner Veröffentlichung legt Spranger eine Analyse von Pestalozzis „Nachforschungen“ vor: „Pestalozzis ‚Nachforschungen‘. Eine Analyse“ (S. 91-115). In dieser in einem Zeitraum von drei Jahren entstanden Schrift nimmt Pestalozzi keimhaft sein künftiges Schaffen vorweg. Die Grundbegriffe Naturzustand, gesellschaftlicher und sittlicher Zustand werden von Pestalozzi als charakteristisch für den Einzelmenschen verwandt. Diese drei Zustände bezeichnen keine Fortschrittslinie, sondern die drei Wesensschichten des Menschen. Dabei ist der gesellschaftliche Zustand letztlich nur die Fortdauer des Naturzustands, nur der Egoismus und die Selbstsucht des natürlichen Menschen werden jetzt in eine unschädlichere Bahn gelenkt. Die Verwobenheit der drei Zustände wird deutlich, wenn Pestalozzi sagt: „Also bin ich ein Werk der Natur. Ein Werk meines Geschlechts. Und ein Werk meiner Selbst“ (PSW 12, S.123). Die Überwindung des Naturhaften im Naturzustand und im gesellschaftlichen Zustand ist Teil sittlicher und religiöser Erhebung, aber sie ist ganz Sache der Individualität des einzelnen Menschen. Die Sittlichkeit bleibt immer verbunden mit der tierischen Natur und den gesellschaftlichen Verhältnissen. Bei Pestalozzis Wendung zum Sittlichen wird anfangs der Einfluss der Ethik Kants sichtbar mit Sätzen wie „Ich vervollkommne mich selbst, wenn ich mir das was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will“. Um das Sittliche zu kennzeichnen, geht Pestalozzi darüber hinaus, er spricht von der inneren Kraft der Veredlung, einer Kraft, die im Innern des Individuums selbständig ist (vgl. S. 107-108). Selbst die Religion des Menschen ist ganz Sittlichkeit und allein Sache der Individualität des Einzelnen, es kann keine Staatsreligion geben. Pestalozzi ist zwischen dem Wirklichkeitssinn und dem Göttlichen in der menschlichen Natur hin- und hergerissen. Der Brief vom 1. Okt. 1793 an Nicolovius   zeigt deutlich diese Auseinandersetzung, die von den „Nachforschungen“ bis zum „Schwanengesang“ weitgehend Pestalozzis Denken bestimmt.

V.

Mit dem Beitrag „‘Das Leben bildet‘. Analyse von Pestalozzis ‚Schwanengesang‘“ beschliesst Spranger seine Veröffentlichung (S. 117-149). Spranger geht von der Frage aus, in welchem Werk Pestalozzi die „Idee der Elementarbildung“ am vollkommensten dargestellt hat und geht dabei von der Fassung des „Schwanengesangs“ aus, wie er in der Fassung der Cotta-Ausgabe vorliegt. Spranger sieht als Fundamentalgrundsatz jedes naturgemässen Erziehungswesens den Satz: „Das Leben bildet“ (vgl. S. 119). Allerdings ist diese Schrift durch ihre fortlaufenden Wiederholungen und das Zusammenfügen aus früher entstandenen Texten nicht leicht zu interpretieren.

Der Gegenbegriff zu „Das Leben bildet“ ist die künstliche und planmässige Bildungsveranstaltung. Wenn das Leben den Menschen formt, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen das Leben zum Guten und Wertvollen bildet (vgl. S. 121). Nicht die Umwelt und das Leben führt den Menschen auf den rechten Weg, es muss schon im Innern des Menschen vorhanden sein, um dann allenfalls freigelegt zu werden. Dies können herkömmliche Schulen nicht leisten, sie sind nicht vom Geist der Elementarbildung berührt. Leben ist für Pestalozzi die den Menschen von Innen lenkende Natur, die schulischen Erziehungsbemühungen können diese keinesfalls ersetzen. Leben ist naturgemäss-gesetzliche Entwicklung: „Das Leben ist die nach Gesetzen sich von innen her entfaltende Natur (des Kindes)“ (S. 125). Es ist der Selbsttrieb, der in der Natur, also die in jeder einzelnen menschlichen Kraft liegt, der sich entfaltet. Alles was den Menschen bildet, ist in ihm als Kraft und als Betätigung dieser Kraft bereits angelegt (vgl. S. 126). Die Erziehung kann hier nur „Handbietung“ leisten, es ist nicht die objektive Welt, die den Menschen formt. Die Selbstkräfte des Menschen formen sich nur durch ihren Gebrauch, es ist die Idee der Elementarbildung, um im Menschen das bereits Vorhandene hervorzurufen. Notwendig ist der Rückgriff auf die Totalität der Kräfte, von Pestalozzi als „Gemeinkraft“ bezeichnet. Bildung entfaltet sich im Leben, „die Kunst (= Erziehung, GK) hilft nur nach; sie muss sich eng an das Entfaltungsgesetz dieser ursprünglichen Kräfte anschliessen; ihnen gleichsam ihr ‚Leben‘ abfühlen und ablauschen“ (S. 133). Spranger hebt hervor, dass Leben bildet, weil im Menschen bereits ein göttlicher Funke grundgelegt ist, die Methode kann diese Herausbildung allenfalls unterstützen. Auch Anschauung, bei Pestalozzi oft als „Anschauungskraft“ formuliert, wird in den Zusammenhang mit „Das Leben bildet“ gestellt. Der Subjekt-Objektzusammenhang wird immer mit der Wohnstubenwelt des Kindes illustriert, Bildung beginnt nicht mit einem Begriffssystem, sondern mit den Lebenszusammenhängen. Pestalozzis Gedanken kreisen fast immer um den bildenden Einfluss einer wohlgeordneten Wohnstube, es ist der Kreis des häuslichen Lebens, nur hier sind Triebregulierung und Bedürfnisbefriedigung noch unmittelbar miteinander verbunden. Deshalb muss für Pestalozzi auch die Schulstube der Wohnstube folgen. Die Formel „Das Leben bildet“ könnte fortgeführt werden durch die Formel „Das Leben soll den Menschen zur inneren Ruhe bilden“ (S. 146-147). Anders das von Pestalozzi entworfene Gegenbild einer Mutter, die das Kind in der Unruhe unbefriedigter natürlicher Triebregungen belässt, sie trägt die Unordnung ihres eigenen Gemüts in die junge Seele hinein, welche im weiteren Leben verheerend nachwirken wird (vgl. S. 147).

VI.

Sprangers Abhandlung zu Pestalozzis Denkformen beruht zu weiten Teilen auf der Interpretation und Analyse der beiden Werke Pestalozzis: „Nachforschungen“ (1797) und „Schwanengesang“ (1826). Die Analyse dieser beiden Werke ist ein eindrucksvolles Beispiel für das Vorgehen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik und den hermeneutischen Umgang mit Texten, also des Verstehens von Texten aus diesen selbst. Vereinzelt spricht Spranger zwar den Einfluss der Zeitgeschichte auf Pestalozzis Denken an wie dessen Abkehr von der Hoffnung auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Französische Revolution. Letztlich bleibe Pestalozzi seiner patriarchalischen Einstellung treu, statt auf einen „guten“ Landesfürsten zu hoffen, habe er seine Einstellung auf die Bedeutung der Wohnstube übertragen.

Im Mittelpunkt von Sprangers Veröffentlichung steht der Beitrag zu „Pestalozzis Denkformen“. Dieser Beitrag ist keine aus der Biographie hergeleitete Auseinandersetzung mit Pestalozzis „Denkformen“, sondern die Darstellung der drei Lebenskreise des Menschen, den häuslichen Verhältnissen, der Arbeit und dem Beruf und dem dritten Lebenskreis Staat und Gesellschaft. Danach arbeitet Spranger die drei Zustände des Menschen heraus, den Naturzustand, den gesellschaftlichen Zustand und den sittlichen Zustand. Deutlich wird dabei, dass weder die drei Lebenskreise des Menschen noch die drei Zustände jeweils isoliert zu sehen sind, es gibt hier keine Fortschrittslinien, sondern die drei Lebenskreise durchdringen und beeinflussen sich gegenseitig. Besonders deutlich wird dieses gegenseitige Durchdringen bei Sprangers Kennzeichnung der drei Zustände: Der Mensch entwickelt sich nicht vom tierischen Naturzustand über den gesellschaftlichen Zustand zum sittlichen Wesen. Sittlichkeit ist zwar das Ziel menschlicher Entwicklung, aber zugleich ist der Mensch von seiner tierischen und egoistischen Natur ebenso geprägt wie von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen er lebt. Auch wenn Spranger vereinzelt andere Werke Pestalozzis, beispielsweise „Die Abendstunde eines Einsiedlers“ (1780), den „Stanser Brief“ (1799) „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ (1801), oder einzelne „Reden an sein Haus“ für seine Darstellung heranzieht, wird von ihm nicht Pestalozzis Gesamtwerk in den Blick genommen, nicht der Einfluss der von Pestalozzi intensiv reflektierten politischen Ereignisse dieser Jahre (Französische Revolution, Helvetische Revolution, Wandel von der Ständegesellschaft zu einer bürgerlichen Gesellschaft und der restaurative Wandel nach der Niederlage Napoleons), ebenso bleiben die biographischen Brüche und Entwicklungen seines Lebens ausser Betracht (mehrmaliges Scheitern auf dem Neuhof, Aufenthalt in Stans, Aufbau der Erziehungsinstitute in Burgdorf und Yverdon, Zerbrechen des Instituts in Yverdon als Folge der dortigen Auseinandersetzungen, Rückkehr auf den Neuhof, der immer noch bestehende Vorsatz zum Aufbau einer Armenerziehungsanstalt und die zahlreichen Werke sowie der umfangreiche Briefwechsel). Heute kann man Pestalozzi nicht in allen Punkten folgen, so auf die Betonung der Wohnstube als Modell aller Erziehung mit einer Übertragung dieses Modells auf die Schule oder auf die Überbetonung der Mutter für die Entwicklung des Kindes. Zentrale Fragen der aktuellen Erziehungswissenschaft stellen sich für Pestalozzi und in der Folge für Spranger nicht: Fragen der Migration, der Digitalisierung, der Inklusion beeinträchtigter Kinder und Jugendlicher oder auch die Fragen eines veränderten Frauen- bzw. Familienbilds. Auf die von Pestalozzi lebenslang intensiv reflektierte soziale Frage geht Spranger nicht ein, allein mit der Konzentration auf die Analyse der zwei Werke, „Nachforschungen“ und dem Spätwerk „Schwanengesang“ vermisst man bei Sprangers Blick auf Pestalozzis Werk eine stärkere kontextuale Einbindung. Man kann sich dem Autor eines so umfassenden schriftstellerischen Werks letztlich nicht allein durch die hermeneutische Analyse zweier Werke umfassend nähern.

(Gerhard Kuhlemann)